Recovery und Sozialpsychiatrie

Zentral für das Verständnis der derzeitigen Entwicklung ist das Zusammentreffen von Interessen und Aktivitäten von Betroffenen und Profis im Gesundheitswesen. Diese Entwicklung ist Fortsetzung und logische Konsequenz der Erfolge der Betroffenen- und Angehörigenbewegung. Das Neue an Recovery in ihrer heutigen Bedeutung ist die zunehmende Bereitschaft und Expertise in der Zusammenarbeit zwischen Nutzern von Hilfen und professionellen Helfern und Planern.

Empowerment der Betroffenen und ihrer Angehörigen und Freunde, deren eindrucksvolle Erfolge sowohl für gemein – same als auch für unterschiedliche Ziele sowie die Tatsache, dass diese Bewegungen Wege und Formen gefunden haben, das professionelle System zu verstehen und zu beeinflussen, bilden die Basis für ein Fortschreiten in Richtung Recovery. Die meisten konzeptuellen und politischen Erwägungen und Entscheidungen sind durch die Zusammenarbeit zwischen Betroffenen, Profis und Politikern zustande gekommen. Viele der einflussreichsten Publikationen zum Thema kommen von aktuellen und ehemaligen Betroffenen sowie von Forschungsgruppen von Menschen mit und ohne Psychiatrieerfahrung1.

Internationale Entwicklung

Recovery ist seit einigen Jahren gesundheitspolitische Vorgabe in den englischsprachigen Ländern wie USA, UK, Australien, Neuseeland, Kanada und Irland. Im deutschsprachigen Raum haben sowohl das Konzept als auch der Begriff Recovery verbreitete Akzeptanz gefunden (unser Buch erschien im Oktober 2011 in der 5. bearbeiteten Auflage2). Wie andere Sprachräume damit umgehen werden, ist großteils noch offen.

Europäische Erklärung zur seelischen Gesundheit: Wichtige Aspekte der aktuellen Bedeutung von Recovery mit ihren Werten der Personenorientierung, Einbeziehung der Betroffenen und Angehörigen, Selbstbestimmung, Entscheidungsfreiheit und Wachstumspotential sind jedenfalls für Europa in dem Aktionsplan formuliert, den die Gesundheitsminister der europäischen Länder der WHO 2005 in der europäischen Erklärung zur seelischen Gesundheit niederlegten3.

Dieser Aktionsplan nennt als eine von fünf Prioritäten für die nächsten zehn Jahre die Notwendigkeit, umfassende, integrierte und effiziente psychosoziale Versorgungssysteme zu entwerfen und zu implementieren, die Förderung, Prävention, Behandlung, Rehabilitation, Pflege und Recovery vorsehen. Des Weiteren enthält der Plan einen Aufruf, die Erfahrung und das Wissen der Betroffenen und Angehörigen als wichtige Grundlage für die Planung und Entwicklung von psychosozialen Hilfen anzuerkennen und gemeinsam gegen Stigma, Diskriminierung und Ungleichheit anzugehen, Menschen mit psychiatrischen Gesundheitsproblemen und ihre Angehörigen zu stärken und zu unterstützen, damit sie sich an diesem Prozess aktiv beteiligen können.

Das WHO-EC Empowerment Partnership Project mit seinen 100 Empowerment- Praxis-Beispielen und 19 Indikatoren zur Einschätzung von Empowerment in einzelnen Ländern Europas schließt an den Europäischen Aktionsplan an und bietet Orientierung für die Weiterentwicklung von empowermentorientierten Arbeitsweisen, Richtlinien und Gesetzgebun gen im Europa der nächsten Jahre (www.euro.who.int).

Trialogische WPA-Arbeitsgruppe: Der Weltpsychiatrie-Verband hat 2010 eine erste Arbeitsgruppe eingesetzt, die trialogisch besetzt ist und deren Empfehlungen zur Einbeziehung von Betroffenen und Angehörigen in allen Bereichen der psychiatrischen Arbeit im globalen Kontext wesentliche Anstöße geben werden4. Die UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahr 2008 wurde mittlerweile von über 100 Staaten ratifiziert, darunter Deutschland und Österreich. Die Rechte von Menschen mit Behinderungen aufgrund psychiatrischer Störungen sind dabei explizit Teil der Konvention. Auch das ist ein bemerkenswertes Ergebnis der Entwicklung der internationalen Betroffenenbewegung.

Bedenken

Durch Empowerment und Recovery erhalten Betroffene und Angehörige wie auch professionell Tätige im Rahmen von Behandlungs- und Betreuungssituationen neue Rollen und Verantwortung, wobei der Fokus nunmehr auf partizipativer Entscheidungsfindung und Wahlfreiheit liegt. Die Aussicht auf diese Veränderungen führt im Berufsfeld zu Konflikten.

Mögliche Vernachlässigung: Unter den „Top Ten der Einwände gegen Recovery, denen man im Zuge der Umwälzung des Psychiatriesystems begegnet“5 findet sich nicht nur vornehmlich das Thema „Ressourcen“ („Wir haben ohnehin viel zu knappe Ressourcen, wie sollen wir uns nun auch noch um Recovery kümmern?“), sondern auch das Thema „Risiko“. Die Wahlfreiheit der Klienten erscheint als mögliche Quelle der „Vernachlässigung im Zeichen von Recovery“6 als auch als Risikofaktor auf Seiten des Anbieters: „Wenn Recovery in der Verantwortung der Betroffenen liegt, warum bekomme dann ich die Schuld, wenn etwas schief geht?“

Fortschritte in Wissenschaft und Praxis von Risikoeinschätzungen werden als mögliche Verbesserungen für diese im angloamerikanischen Raum besonders akzentuierte schwierige Situation betrachtet5, 6. Patientenverfügungen und Behandlungsvereinbarungen gelten sowohl als förderlich für Autonomie und Wahlfreiheit von Patienten als auch als Schutz des Fachpersonals, das jedoch „so lange übervorsichtig sein wird, bis sie sicher sein können, dass das System für den Notfall bessere Unterstützungen anbieten kann“6.

Einsparung von Hilfeleistungen? Andere Hindernisse werden in Finanzierungssystemen gesehen, die auf Programme für ganze Nutzergruppen abzielen und keinen Raum für individuelle Gestaltung lassen sowie die Fragmentierung der Finanzierung im Gesundheits- und Sozialbereich insgesamt. Es wurden auch Befürchtungen geäußert, dass das Konzept von Recovery zur Einsparung von Hilfeleistungen missbraucht werden könnte. Betroffene und Forscher mit Betroffenenerfahrung äußern aktuell Bedenken im Hinblick auf das „Risiko der professionellen Kolonialisierung dieser so besonderen und andersartigen Wissensbasis“7, eine Vereinnahmung der Recovery-Bewegung sowie die Verharmlosung ihrer Probleme durch das Gesundheitssystem.

Wissenschaftliche Evidenz: In der Psychiatrie Beschäftigte äußern oft Angst vor Missverständnissen, Illusionen und unrealistischen Erwartungen, sie bemängeln das Fehlen klarer Definitionen von Recovery und mangelnder wissenschaftlicher Evidenz8. Ob Recovery für ihren Erfolg Forschung benötigt oder ob sie als Bürgerrechtsbewegung keiner wissenschaftlichen Evidenz bedarf, wird diskutiert. Die Auffassung, dass eine Recovery- Orientierung nur durch Forschungsevidenz überleben und an Einfluss gewinnen kann, ist unter Fachleuten, die über Richtlinien- und Systemveränderungen nachdenken, ziemlich verbreitet.

Konzepte und Definitionen

In ihrem Definitionsüberblick stellen Onken et al.9 verschiedene Gruppierungen von Recovery-Elementen vor:

  • personzentrierte Elemente wie zum Beispiel: Hoffnung, Handlungsbewusstsein, Selbstbestimmung, Sinn und Zielgerichtetheit, Bewusstheit und Möglichkeit;
  • wiederherstellende Elemente von Recovery wie Coping, Heilung, Wohlbefinden und Gedeihen;
  • den sozialen Austausch betreffende Elemente wie Funktionieren in sozialen und gesellschaftlichen Rollen, Macht, Wahl zwischen bedeutsamen Optionen sowie
  • gemeinschaftsorientierte Elemente wie soziale Verbundenheit/Beziehungen, soziale Umstände/Chancen und Integration.

Dynamische Interaktion: Parallel zu dieser Gruppeneinteilung liefern die Autoren einen ökologischen Rahmen, der auch die Dimension der Interaktion zwischen verschiedenen veränderungsbedürftigen Teilen eines Systems miteinschließt. Dieser berücksichtigt auch das „dynamische Zusammenspiel komplexer, synergetischer und miteinander verknüpfter Kräfte“, die Recovery fördern oder behindern können, wie auch die „dynamische Interaktion zwischen Eigenschaften des Individuums (wie z. B. Hoffnung), der Umwelt (wie z. B. Chancen) und Eigenschaften des sozialen Austauschs zwischen Individuum und Umwelt (wie z. B. Entscheidungsfreiheit)“. Des Weiteren plädieren Onken et al.9 mit Watzlawick für eine Unterscheidung zwischen Veränderungen erster Ordnung innerhalb einer gegebenen Systemeinheit, während das System jedoch unverändert bleibt, Veränderungen zweiter Ordnung innerhalb den Veränderungen verschiedener Systemteile und dem System selbst.

Systemwandel: Einen „vorläufigen Konsens“ aus der Literatur „zu wagen“, wonach „Recovery schwierig, idiosynkratrisch und von Vertrauen abhängig – aber möglich“ – sei, ergebe laut Hopper10 vier Themen, die sich der derzeit gebräuchlichen Bedeutung von Recovery annähern:

  • Erneuerung der Wahrnehmung von Möglichkeiten
  • Wiedererlangung von Kompetenzen
  • Wiederverbindung und ein Platz in der Gesellschaft
  • Vergangenheitsbewältigung und Aussöhnung.

Nach seiner Untersuchung der Bemühungen, eine Recovery-Ausrichtung auf der Ebene des Gesundheitssystems einzuführen, kommt Hopper zu dem Schluss, dass ähnlich wie im Rahmen von Recovery-Geschichten auch im Rahmen der staatlichen Planung die tatsächliche Rauheit der Alltagsrealität häufig ausgespart bleibt. In diesem Zusammenhang thematisiert er die materiellen Mängel und die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten und fordert gesellschaftliche und Systemreformen. Die daraus resultierenden Spannungen und großen Herausforderungen bringen ihn auf Amartya Sen’s Capabilities Approach und seine mögliche Anwendung auf den Recovery-Ansatz10. Dies würde einen Rahmen für eine konstruktive Thematisierung der größten Unklarheiten und ernsthaften Konflikte der Recovery-Debatte bieten, besonders in Bezug auf die politisch-ökonomischen und sozialen Konsequenzen eines echten Systemwandels.

Selbstbestimmung: Die Freude an der Vielfalt und der konstruktive Umgang mit der Komplexität des Themas wird hoffentlich stärker sein als die Enttäuschung über den Mangel an strikten Definitionen und Regeln. Klar ist, dass das Recht auf Partizipation und Selbstbestimmung und der Schutz vor Diskriminierung zentrale Vorbedingungen für Recovery sind. Für eine Definition lässt sich zusammen – fassen, dass es bei Recovery um die Entwicklung aus den Beschränkungen der Patientenrolle heraus hin zu einem selbstbestimmten, sinnerfüllten Leben innerhalb der Gesellschaft geht. Es handelt sich dabei meist um individuell fortlaufende Prozesse, die sich an den Werten und Zielen orientieren, die für den einzelnen betroffenen Menschen wesentlich sind.

Konsequenzen für die klinische Arbeit

Recovery in der aktuellen Bedeutung umfasst das Ziel wie auch den Prozess, die Handlungsfähigkeit wie auch die gegenseitige Abhängigkeit. Sie schneidet die Themen Risikovermeidung und Risikobereitschaft an und bewegt sich weg vom Defizitmodell in Richtung Empowerment, Resilienz und Hoffnung, um bei den gesellschaftlichen, gesundheitspolitischen und psychiatrischen Richtlinien eine Veränderung zu bewirken, die sich auch auf die Versorgungssituation auswirken. Wenn es der Psychiatrie gelingt, Selbstbestimmung, Entscheidungsfreudigkeit und Hoffnung zu stärken, dient sie der Recovery; schwächt sie die Selbstbestimmung und vermittelt Pessimismus und Hoffnungslosigkeit, so wird sie ihr im Gegenteil schaden.

Ressourcen- und Personenorientierung: Die Hilfen, die Menschen auf dem Weg zu Recovery brauchen, sind vielfältig und von individuellen Prioritäten abhängig. Wenn sie Betroffenen und Angehörigen ermöglichen sollen, im Sinne von Empowerment und Recovery Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen, müssen sie sich weg von einem traditionellen Modell, das psychiatrische Erkrankungen lediglich als Defizite beschreibt, hin zu einem ressourcenorientierten Ansatz bewegen. Grundlage der modernen psychiatrischen Versorgungsplanung ist ein person zentrierter Ansatz, der sich flexibel und mobil am individuellen Unterstützungsbedarf und an den Bedürfnissen und Ressourcen der Person im eigenen Lebensumfeld orientiert, anstatt deren Anpassung an bestehende Institutionen zu fordern.

Partizipation: Auf der Ebene der therapeutischen Beziehung lösen partizipative Modelle zur gemeinsamen Entscheidungsfindung und Behandlungsvereinbarungen sowie Patientenverfügungen für akute Krisen paternalistisch geprägte Compliance-Modelle ab. Diese Innovationen mit neuen Rollen und Fähigkeiten werden die Beziehungen zwischen Nutzern und Anbietern im Gesundheitssystem erheblich verändern. Sie können sich jedoch nur dann nachhaltig entwickeln, wenn sich die Politik sichtbar hinter sie stellt und die nötigen Rahmenbedingungen für ihre Umsetzung schafft.

ResümeeRecovery ist in den letzten Jahren gesundheitspolitische Vorgabe in den englischsprachigen Ländern und international für psychiatrische Praxis und Forschung zunehmend einflussreich geworden. Zentral für Entwicklung und Erfolg von Recovery-Konzepten sind das Zusammenwirken der sozialpsychiatrischen Praxis und Forschung zum Kontext psychischer Krankheit und Gesundheit und der Expertise der Betroffenen- und Angehörigenbewegung sowie der Ausbau und die Sicherung von Menschen- und Patientenrechten.

1 Wallcraft J, Schrank B, Amering M, Handbook of Service User Involvement in Mental Health Research. London: Wiley-Blackwell 2009

2 Amering M & Schmolke M, Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. 5. Auflage. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2011

3 WHO European Ministerial Conference on Mental Health (2005a) Mental Health Action Plan for Europe: Facing the Challenges, Building Solutions. Helsinki, Finland, 12-15 January 2005. EUR/04/5047810/7

4 Wallcraft J et al., Partnerships for better mental health worldwide: WPA recommendations on best practices in working with service users and family carers. World Psychiatry 2011; 10(3):229-36

5 Davidson L, O’Connell M, Tondora J, Styron T, Kangas K, The Top Ten Conserns About Recovery Encountered in Mental Health System Transformation. Psychiatric Services 2006; 57/5:640-645

6 Meehan TJ, King RJ, Beavis PH, Robinson JD, Recovery-based practice: do we know what we mean or mean what we know? Australian and New Zealand Journal of Psychiatry 2008; 42:177-182

7 Glover H, Recovery based service delivery: are we ready to transform the words into a paradigm shift? Australian e-Journal for the Advancement of Mental Health (AeJAMH) 2005; 4(3): 1-4. Online im Internet: http://www.auseinet.com/journal/vol4iss3/glovereditorial.pdf

8 Roberts G & Hollins S. Recovery: our common purpose? Advances in Psychiatric Treatment 2007; 13:397-399

9 Onken SJ, Craig CM, Ridgway P, Ralph RO, Cook JA, An Analysis of the Definitions and Elements of Recovery: A Review of the Literature. Psychiatric Rehabilitation Journal 2007; 31/1:9-22

10 Hopper K, Rethinking social recovery in schizophrenia: what a capabilities approach might offer. Soc Sci Med 2007; 65(5):868-79