Von der Integration zur Inklusion

Ausgangspunkt dieser politischen Willensbildung war die Charta bzw. der Gründungsvertrag der Vereinten Nationen, unterfertigt 1945 zu einem Zeitpunkt, wo Europa in Trümmern lag. Nie wieder sollte eine gesellschaftliche Desintegration, Sequestration und Destruktion solch unvorstellbaren Ausmaßes Platz greifen können. Der Charta folgten 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sowie 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention. Darauf basierend wurden mehr als 50 Jahre später einerseits im Jahre 2000 die Charta der Grundrechte der Europäischen Union proklamiert und mit dem Vertrag von Lissabon 2009 für alle EU-Mitgliedsstaaten rechtsverbindlich und andererseits im Jahre 2006 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, kurz auch Behindertenrechtskonvention (BRK) genannt, in der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Aus dieser BRK leiten sich die im Begriff Inklusion subsummierten Ansprüche ab.

Wenn wir also von Inklusion sprechen, dann geht es letztlich um nichts weniger als die Kohäsion von Gesellschaften mit einem klaren Blick auf die verbrieften Grund- und Menschenrechte. Gerade in Zeiten einer „Polykrise“1, die die Gefahr eines substantiellen Überwiegens von Zentrifugal- über die Zentripetalkräfte einer Gesellschaft in sich bergen, ist es von besonderer Bedeutung, sich dieses Kontextes bewusst zu sein. Die Psychiatrie in ihrer Gesamtheit, also die Menschen, die in ihr und mit ihr zu tun haben, verspüren – wie uns die Geschichte zeigt – als erste die Auswirkungen solcher gesellschaftlicher Veränderungen und werden deshalb nicht zu Unrecht gelegentlich als „Seismographen“ in diesem Zusammenhang bezeichnet.

Was aber meint nun Inklusion?

Das Latinum in der Tasche provoziert hier falsche Assoziationen, die womöglich den nicht selten anzutreffenden, spontan abwehrenden Reflex gegen den eingedeutschten Begriff „Inklusion“ erklären bzw. nachvollziehbar machen könnte. Denn „Inklusion“ leitet sich weniger vom lateinischen „includere“ (einschließen, einsperren, einfügen) als vielmehr vom Englischen „to include“ (einschließen, mit einbeziehen) ab und steht somit für „Einbeziehung“, aber auch für „Zugehörigkeit“ bzw. „Dazugehörigkeit“. Alle Menschen, so verschieden sie auch sein mögen, sind Teil der Gesellschaft und gehören dazu. Oder wie Richard von Weizsäcker es ausgedrückt hat: „Es ist normal, verschieden zu sein.“2

Dass mit der Inklusion ein Paradigmenwechsel eingeläutet ist, wird deutlich, wenn wir Inklusion an der bisherig gelebten Integration kontrastieren. „Integration“ bedeutet, dass die, die draußen sind, hereingeholt werden. Dies setzt voraus, dass sie zuvor im Draußen verortet, also als nicht zugehörig definiert wurden. Die mangelnde Teilhabe- und Teilnahmefähigkeit an der Gesellschaft wird ursächlich Defiziten des Individuums zugeschrieben und ein Ausgrenzungszustand somit – ganz dem Zeitgeist entsprechend – privatisiert. Diese Defizite zu identifizieren und durch geeignete Unterstützungsmaßnahmen zu kompensieren ist Gegenstand der gelebten Integration. Damit wird im „Sozialbereich“ fortgesetzt, worum sich Schule seit über hundert Jahren bemüht: das Heranführen des Einzelnen an eine von der Mehrheit definierten Norm. Und wer trotz Unterstützung nicht mit kann oder will, also die Normziele nicht erreichen kann, bleibt draußen.

Dagegen wendet sich entschieden die Inklusion. Die UN-Konvention geht davon aus, dass Behinderung nicht Merkmal eines Individuums, sondern Ausdruck einer Wechselwirkung ist. Dementsprechend sind Barrieren, die Teilhabe und Teilnahme erschweren oder verhindern und das Individuum somit behindern, zu identifizieren und abzubauen. Dieser Perspektivenwechsel geht auch mit der Auffassung einer vorbehaltlosen und nicht an Bedingungen geknüpften Einbezogenheit und Zugehörigkeit aller in die Gesellschaft einher und bekräftigt damit Adornos „Miteinander des Verschiedenen“. Logische Konsequenz dessen ist, die Schaffung von „Sonderwelten“ zur „Integration“ zu beenden, was sich letztlich in Forderungen wie „eine Schule für alle“ oder „ein Arbeitsmarkt für alle“ ausdrückt.

Exklusion

Barrieren, die behindern, befördern das Gegenteil der Inklusion: die „Exklusion“. Der Exklusionsbegriff hat sich ebenfalls in der letzten Dekade in den Sozialwissenschaften breit etabliert, und zwar „zur Bezeichnung und Analyse von kritischen Soziallagen, Marginalisierungsphänomenen und Ausgrenzungsprozessen in der Gegenwartsgesellschaft. Neu scheint die Beobachtung zunehmender Irrelevanz bestimmter Bevölkerungsgruppen für das sogenannte „normale“ Funktionieren der Gesellschaft zu sein, wie etwa der von Heinz Bude geprägte Begriff der „Überflüssigen“ zum Ausdruck bringt.“3 Daher geht es beim Begriffspaar Inklusion/ Exklusion um Teilhabe bzw. Teilnahme4 auf der einen und um Ausgrenzung aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen auf der anderen Seite. Die Dimensionen der Ausgrenzung lassen sich gut entlang der „Modi der Zugehörigkeit“ darstellen. Zugehörigkeit kann vermittelt werden über Interdependenz, also wechselseitige Abhängigkeiten, auf der einen Seite und Teilhaberechte bzw. Partizipation auf der anderen Seite. Zur Ersteren zählt die „Einbindung in die gesellschaftliche Arbeitsteilung“ und die „Einbindung in soziale Netze, zur Zweiteren die materielle, politisch-institutionelle und kulturelle Teilhabe. 5

Dementsprechend verorten sich die Dimensionen der Ausgrenzung in der „Marginalisierung am Arbeitsmarkt, bis hin zum gänzlichen Ausschluss von Erwerbsarbeit“, in der „Einschränkung der sozialen Beziehungen, bis hin zur Vereinzelung und sozialer Isolation“ sowie im „Ausschluss von Teilhabemöglichkeiten an gesellschaftlich anerkannten Lebenschancen und Lebensstandards“.

Eine kritische Situation in einem der genannten Bereiche muss jetzt noch nicht zwangsläufig zu Ausgrenzung führen, im Gegenteil, wenn die anderen Dimensionen intakt sind, können sie kompensierend einwirken. „So bietet eine intakte Partnerschaft bei Arbeitslosigkeit einen wichtigen Rückhalt […]“. Allerdings: „Mit der Zeit verbrauchen sich kompensierende Ressourcen […], wie sozialer Rückhalt, Qualifikation, finanzielle Rücklagen und finanzielle Anrechte gegenüber dem Sozialstaat im Fall anhaltender Arbeitslosigkeit.“ Das heißt, je länger der kritische Zustand anhält oder je öfter er auftritt, desto höher „die Gefahr, dass Exklusion auf andere Dimensionen übergreift“6 und es damit zu einer Verfestigung des Ausgrenzungszustandes kommt.

Was heißt aber Inklusion für die Sozialpsychiatrie?

Auch wenn gelegentlich behauptet wird, dass bei Sozialpsychiatrie das „Sozial“ unnotwendig sei, da eine Psychiatrie, die das Soziale nicht mit ins Kalkül ziehe, ohnehin keine Psychiatrie sei, kann aus meiner Sicht gerade im Lichte der Inklusionsdebatte das Soziale gar nicht genug betont werden. Denn es geht darum, Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung sich als „verschieden“ gezeigt haben, nicht per se aus der Gemeinde in Institutionen zu entfernen und sie erst dann wieder in ihren ursprünglichen Sozialraum zurück zu entlassen, wenn man ihnen ihre „Verschiedenheit“ nicht mehr ansieht, sondern den Verbleib in ihrem gewohnten Sozialraum solange es geht zu ermöglichen.

Die jetzt in Einrichtungen und Institutionen konzentrierte sozialpsychiatrische Kompetenz muss ganz im Sinne eines aufsuchenden Momentes an den Ort des Konflikts gebracht werden und nicht einer der beiden Konfliktpartner vorübergehend entfernt werden. Letzteres kann auch mal notwendig werden, ist aber nicht das erste, sondern das letzte Mittel der Wahl. Die abgestuften Unterstützerkreise, vom familiären Haushalt über Angehörige und Freunde bis hin zur Nachbarschaft und Kommune brauchen die Unterstützung der Profis, auch vor Ort. Seit mehr als zwei Dezennien gilt: ambulant vor stationär. Aber die, die am meisten dabei gehen (lat. ambulare), waren und sind die Betroffenen und Angehörige. Das angezeigte auf – suchende Moment darf aber wiederum nicht wie bisher vom Fürsorgegedanken getragen sein, sondern vom Menschenrechtsansatz. Ausgangspunkt ist der Wille bzw. sind die Interessen der Klienten und nicht die eigenen Vorstellungen von Lebensführung der Helfer. Ihn, den Klienten, ernst zu nehmen, heißt ernst zu machen mit dem im Artikel 3 der UN-Konvention verbrieften Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung. „Sie sollen nicht länger Objekte der Wohlfahrt sein, sondern als gleichberechtigte Rechtssubjekte an der Gesellschaft teilhaben“7, wie es Günther Miniberger, der Vorsitzende der Userorganisation „Strada“ formuliert.

Jeder Mensch will gebraucht werden

Christoph Fally, der Herausgeber der Betroffenenzeitschrift „Spring ins Feld“, betont wiederum den Aspekt, dass jeder Mensch notwendig und gefragt/gebraucht sein will: „Betroffene brauchen die Einladung zur Teilnahme […] wie kaum eine andere Gruppe“, […] „Teilhabe und Teilnahme […] muss bedeuten: […] Das Einräumen von Platz, und das Bereithalten von Raum und Zeit für jeden […]. „Einen Platz meint, ,Gebraucht werden‘ – mehr als bloß als Wirtschaftsfaktor, als Konsument oder Stakeholder. Platz haben, meint als Person zur Geltung kommen können. Es ist […] eine vornehme Aufgabe und sollte Zielsetzung ersten Ranges sein, Menschen, (unabhängig davon ob sie) […] im wirtschaftlichen Sinn leisten können, einen Stellenwert zu geben. Das meine ich unter ,Platz einräumen‘.“8

Und zu Raum und Zeit meint Fally u. a., dass es unterschiedlichste Arten von Kommunikationsräumen braucht und dass es auch Raum für Menschen mit besonderen Begabungen braucht und führt realisierte Beispiele an, wie das Atelier Sonnensegel, die von ihm herausgegebene Betroffenenzeitschrift oder auch zum Beispiel das Verlegen von Literatur etc.

Fally spricht damit einen essentiellen Punkt an, dem ebenfalls in der UN-Konvention Rechnung getragen wird, und zwar im Artikel 8 (2) a) iii), der auf „die Anerkennung der Fertigkeiten, Verdienste und Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen“ verweist. Dass die Abweichung von der Norm eine Bereicherung für uns alle darstellt, ist ebenfalls impliziter Gedanke der Inklusion. Denken wir nur an die herausragenden Werke von Mozart, Beethoven, Altenberg oder eines van Gogh, deren ebenfalls bemerkenswerte psychische Zustandsbilder unsere Wertschätzung für ihr Schaffen in keiner Weise zu trüben vermag.

Imperative der Inklusion

Die „Imperative der Inklusion“ lassen sich also wie folgt zusammenfassen9:

  • Die Würde des Menschen ist unantastbar.
  • Es ist normal, verschieden zu sein.
  • Nothing about us without us.
  • Jeder Mensch will notwendig sein.
  • Schluss mit der Armut der Begierde.
  • Wir brauchen eine Gemeinde, die sich sorgt10.

Weiters

  • Die fürsorgliche Belagerung wird beendet
  • Holt die Alten aus den Heimen.
  • Keine Sonderschulen und Sonderkindergärten.
  • Niemand ist für eine Institution geboren.
  • Eine Schule für alle.
  • Ein Arbeitsmarkt für alle.

„Inklusion“ ist zu allererst eine Frage der Haltung; einer Haltung, die die verbrieften Menschenrechte ernst nimmt und bei der – wie eingangs verwiesen – nicht mehr, aber auch nicht weniger auf dem Spiel steht als die Kohäsion unserer Gesellschaft. Basierend auf dieser Haltung unsere Unterstützungsleistungen im sozialpsychiatrischen Kontext weiterzuentwickeln, ist das Gebot der Stunde. Möge uns dabei der Gedanke Sir Peter Ustinovs begleiten: „Die Akzeptanz der Unterschiede ist die Voraussetzung für die Überraschung von Gemeinsamkeiten.“

Zusammenfassung

Inklusion ist innerhalb der Europäischen Union zum Mainstream geworden. Inklusion rekurriert dabei auf die in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verbrieften Menschenrechte und fordert entschieden das Ende der Privatisierung von Ausgrenzungsphänomenen, indem sie die Barrieren, die zu Ausgrenzung führen, nicht als Defizit des Individuums, sondern als Resultate einer Wechselwirkung identifiziert. Die praktische Umsetzung dieser „inklusiven“ Haltung ist die Herausforderung für die Zukunft bei der Weiterentwicklung der sozialpsychiatrischen Unterstützungsleistungen.

1 s.a. Stéphane Hessel im Gespräch mit Gilles Vanderpooten: Engagiert Euch!, Ullstein 2011, S. 27

2 Weizsäcker R (1993), Ansprache von Bundespräsident a.D. Richard von Weizsäcker bei der Eröffnungsveranstaltung der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte, 1. Juli 1993, Gustav-Heinemann- Haus in Bonn, http://www.imew.de/index.php?id=318, zuletzt 31.10.2011

3 Mayrhofer H, Soziale Inklusion und Exklusion: Eine (system-) theoretische Unterscheidung als Beobachtungsangebot für die Soziale Arbeit. In: soziales_kapital Nr.2; 2009)

4 Wagner R, „Teilnahme & Teilhabe an der Gesellschaft“, Editorial in: pro mente Austria Zeitschrift, 1/2010, S. 2ff 5 Kronauer M, Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Campus, Frankfurt am Main 2010

6 ebd. S. 249

7 Miniberger G, „Inklusion – Herausforderung für die Zukunft“, in: Tätigkeitsbericht 2010 der pro mente Oberösterreich 2011, S.8f

8 Fally C, „Soziale Inklusion; Platz, Raum und Zeit – Meine Stellungnahme“, 18.1.2011, unveröffentlicht

9 Rachbauer C, „Inklusion – Illusion?“, 30.9.2011, unveröffentlicht

10 vgl. Meise U, Hafner F, Hinterhuber H (Hrsg.), Gemeindepsychiatrie in Österreich. Eine gemeindenahe Versorgung braucht die Gemeinde, die sich sorgt. Innsbruck, VIP – Verlag integrative Psychiatrie1998