„Was können wir aus Antistigma-Kampagnen lernen?“

In dem Aktionsplan „Psychische Gesundheit: Herausforderungen annehmen, Lösungen schaffen“, der anlässlich der 2005 in Helsinki abgehaltenen Europäischen ministeriellen WHO-Konferenz publiziert wurde, wird explizit gefordert, dass dem Stigma, der Diskriminierung und Ungleichbehandlung, denen Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen heute noch in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind, entschieden entgegenzutreten sei1.

Stigma und Diskriminierung, die in Folge von psychischen Erkrankungen auftreten können, sind ein tief verwurzeltes Phänomen und sie werden als eine – wenn nicht die – wesentliche Barriere für die Inanspruchnahme von Hilfen, für die Qualität der Behandlung, für die Genesung von Patienten sowie für die Entwicklung der psychischen Gesundheitsversorgung angesehen. Neben der „direkten Diskriminierung“ durch Mitmenschen, findet sich auch eine sogenannte „strukturelle Diskriminierung“, die aus dem Hilfesystem erwächst, das eigentlich für die Behandlung dieser Kranken zuständig wäre. Darunter fallen u. a. die unzureichenden Behandlungsressourcen, die sich auf die Qualität der Behandlung negativ auswirken2.

Spirale der Benachteiligung: Dies alles trägt zur Spirale der Benachteiligung bei, was eine deutliche Einschränkungen von Partizipation und Lebensqualität der von psychischer Erkrankung Betroffenen und ihren Angehörigen zur Folge hat. Das Stigma beschädigt die Identität von psychisch Kranken; eine daraus erwachsende „Selbststigmatisierung“ kann mit der damit vergesellschafteten Entmutigung, Selbstentwertung oder sozialem Rückzug – wie Asmus Finzenanmerkt – zu einer „zweiten Erkrankung“ führen, die sich unabhängig von der Grunderkrankung entwickelt und den weiteren Krankheitsverlauf negativ beeinflussen kann3.

Da all dies erkannt wurde, rückte die Beschäftigung mit dieser Thematik in den vergangenen 15 Jahren verstärkt in das Blickfeld von Fachwelt und Forschung. Mit Kampagnen, zielgruppenorientierten Interventionen4, 5 oder der Bildung von Allianzen gegen bestimmte Erkrankungen6 wird versucht, den mit psychischem Kranksein vergesellschafteten Vorurteilen zu begegnen.

„Schizophrenie hat viele Gesichter“: In diesem Kontext rief die World Psychiatric Association (WPA) im Jahre 1996 die Anti-Stigma-Kampagne „Open the Doors – against Stigma and Discrimination because of Schizophrenia“ ins Leben7. Dieser Initiative schlossen sich über 20 Staaten an. In Österreich wurde diese Aktivität vom Dachverband pro mente austria, der Österreichischen Schizophreniegesellschaft (ÖSG) und der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (ÖGPP) getragen8. „Schizophrenie hat viele Gesichter“ lautete das Motto der in den Jahren 2000 bis 2002 in Österreich durchgeführten WPA-Kampagne.

Insgesamt wurden mehr als 200 Veranstaltungen organisiert, wobei die Informationsveranstaltungen in Schulen eine Besonderheit der österreichischen Kampagne darstellten5. Darüber hinaus wurden verschiedene die Schizophrenie betreffende Themen in Pressekonferenzen, in den größten Tageszeitungen sowie im Rundfunk und Fernsehen angesprochen, wobei – wiederum ein österreichisches Spezifikum – ein Werbespot produziert wurde, der im Fernsehen gesendet und auch in Kinos gezeigt wurde. Zahlreiche Druckwerke wie Plakate, Flugblätter, Broschüren oder Themenhefte in Fachzeitschriften wurden hergestellt, die in Apotheken, Arztpraxen und bei Veranstaltungen verteilt wurden. Es wurde eine Telefon-Hotline sowie eine Home – page eingerichtet, die auch für anonyme Anfragen und Information genutzt werden konnten. Auch wurden Kongresse veranstaltet, die – im Sinne des „Trialog“ – gemeinsam von psychischer Erkrankung Betroffenen, ihren Angehörigen und Experten organisiert wurden. Im Anschluss an diese weltweite Kampagne wurde in einigen wenigen Ländern untersucht, ob diese Aktivitäten auch zu dem gewünschten Ergebnis – nämlich die Einstellungen in der Bevölkerung gegenüber an Schizophrenie Erkrankten zu verbessern – führten9, 10.

Evaluierung der Österreichischen Antistigma-Kampagne

Vorrangige Zielsetzungen des WPA-Programms waren,

  • den Wissensstand über Schizophrenie und deren Behandelbarkeit in der Bevölkerung zu verbessern,
  • durch gezielte Aktivitäten die mit diesen Erkrankungen vergesellschafteten Vorurteile und Ausgrenzungen zu vermindern und
  • dadurch auch die Entstigmatisierung von anderen psychischen Erkrankungen zu bewirken.

Um einen Überblick über die Einstellungen gegenüber für die Schizophrenie relevanten Themen in der Bevölkerung – aber auch in bestimmten Bevölkerungsgruppen – zu erfahren, wurde 1998/ 1999 im Vorfeld zur Österreichischen Anti-Stigma-Kampagne eine repräsentative Umfrage durchgeführt. 2007 wurde diese Erhebung wiederholt. Nachfolgend werden mit den Abbildungen einige der zentralen Ergebnisse dieser Replikationsstudie deskriptiv dargestellt10.

Ergebnisse: Die Kampagne blieb kaum in Erinnerung. Einer Medienanalyse zufolge konnten mit dieser Kampagne ursprünglich 18 % der österreichischen Bevölkerung erreicht werden. 5 Jahre später konnten sich nur mehr etwa 7 % an diese Kampagne erinnern. Nach wie vor bestand in der Bevölkerung ein großes Unwissen hinsichtlich schizophrener Erkrankungen; der Anteil jener, die mit dem Begriff Schizophrenie nichts an – fangen konnten, war sogar noch größer geworden und betraf nun fast jeden 4. Österreicher. Das Interesse, mehr über die Erkrankung Schizophrenie erfahren zu wollen, nahm zwar signifikant zu, nach wie vor war der Anteil jedoch gering.

Bedeutsam erscheint, dass 2007 im Vergleich zur ersten Umfrage 1998/1999 der Anteil jener Personen, die psychisch sowie an Schizophrenie Erkrankte als gefährlich ansehen, signifikant zugenommen hatte. Dass die Einschätzung von psychisch Kranken als „gefährlich“, einen direkten negativen Einfluss auf die Kontaktbereitschaft ihnen gegenüber ausübt, ist in zahlreichen Studien nachgewiesen worden. Signifikant weniger Befragte als in der ersten Untersuchung wollten, dass Menschen, wie sie in der Fallvignette kurz beschrieben wurden, „mitten in der Gesellschaft“ leben sollen. Somit stieg die soziale Distanz gegenüber diesen Mitbürgern sogar an. Als positiv zu bewerten ist die Tatsache, dass sich die Ansichten zur Behandelbarkeit der Schizophrenie allgemein und zum Vorliegen einer wirksamen Behandlungsmöglichkeit für die in der Fallvignette dargestellten Person gegenüber der Umfrage aus dem Jahre 1998 leicht verbessert haben.

Welche Lehren können daraus gezogen werden?

Die Ergebnisse dieser Untersuchung weisen somit darauf hin, dass

  • 5 Jahre nach Beendigung der WPAKampagne in der österreichischen Bevölkerung die Einstellungen gegenüber an Schizophrenie Erkrankten nicht wesentlich verändert werden konnten und
  • eine Kampagne offensichtlich nicht ausreicht, um Einstellungen zu beeinflussen, sodass solche Anti-Stigma- Aktivitäten daher langfristig angelegt werden sollten.

Eine Besonderheit dieser WPA-Kampagne war es, dass sie sich auf eine einzelne Erkrankung fokussierte. Die Wahl fiel mit Absicht auf die Schizophrenie, da man hoffte, dass durch die Präsentation einer Erkrankung, die mit einem ausgeprägten Stigma behaftet ist, auch andere geringer stigmatisierte psychische Erkrankungen von der zu erwartenden Einstellungsverbesserung – im Sinne eines Transfereffektes – profitieren würden. In der Tabelle sind schlagwortartig die wichtigsten Erkenntnisse aufgelistet, die von den Initiatoren der WPA-Kampagne aus den weltweiten Aktivitäten gewonnen wurden7.

Berücksichtigt man, dass es sich bei den Einstellungen gegenüber psychisch Kranken um kulturell tradierte und fest verankerte Stereotype und Vorurteile handelt11, darf nicht erwartet werden, dass mit einer Kampagne diese über Nacht längerfristig wesentlich verändert werden können. Daher erscheinen Interventionen erforderlich, die einen „langen Atem“ aufweisen, ein Ansatz der heute im Rahmen der EAAD (European Alliance against Depression) verfolgt wird6.

Fokussierung auf geringer stigmatisierte Erkrankung: Da die gewünschten Ziele dieser WPA-Kampagne zumindest in Deutschland und besonders in Österreich eher verfehlt wurden9, 10, stellt sich die Frage, ob es richtig war, eine Krankheit in den Mittelpunkt zu stellen, die mit ausgeprägten Vorurteilen behaftet ist. Schizophrenie kommt im Vergleich zu andern psychischen Erkrankungen zudem seltener vor, sodass sich der Bevölkerung wenig Möglichkeit bietet, im alltäglichen Leben mit einem an Schizophrenie Erkrankten in Kontakt treten zu können9, 10, ein Umstand, der für die Modifizierung von Einstellungen als wichtig erkannt wurde. Zudem kann dieses Krankheitsspektrum dem Laien nicht ganz einfach vermittelt werden.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und den aus dieser Kampagne gewonnenen eigenen Erfahrungen läge es aus Ansicht des Verfassers nahe, eine Erkrankung wie die Depression in den Fokus von Anti-Stigma-Aktivitäten zu stellen, die zu den häufigsten psychischen Erkrankungen zählt und auch besser vermittelbar ist als die Schizophrenie. Dafür spräche auch, dass sich im Gefolge der „Defeat Depression Campaign“ die Einstellungen der Bevölkerung in Großbritannien gegenüber depressiven Menschen verbesserten12. Auch weisen die Ergebnisse einer Studie darauf hin, dass bei der Fokussierung auf eine geringer stigmatisierte Erkrankung, wie es die Depression ist, im Sinne eines Transfereffektes auch die Einstellungen gegenüber einer stärker stigmatisierten Erkrankung – wie die Schizophrenie – verbessert werden konnten13.

Verstärktes wissenschaftliches Interesse: Auch wenn die Ergebnisse dieser Replikationsstudie entmutigend erscheinen mögen, hatte diese Kampagne positive Auswirkungen, die vor allem „nach innen“ – in die Psychiatrie selbst – gerichtet sind. Betrachtet man die Anzahl von Publikationen zum Stigma, wäre zu erwarten, dass die Beschäftigung mit dieser Thematik, nach Abflauen der WPA-Aktivitäten, als flüchtige Modeströmung wiederum aus dem Blickfeld des Wissenschaftsbetriebes geraten würde. Dem widerspricht jedoch, dass in den letzten Jahren die Zahl von Veröffentlichungen zu dieser Thematik anstieg sowie sich ihr Spektrum erweiterte.

Perspektivenwechsel: Als positiv kann auch bewertet werden, dass zumindest ansatzweise versucht wurde, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und bedacht wurde, wie und in welchem Ausmaß die Psychiatrie selbst in Stigmatisierungsprozesse verstrickt ist2, 14. Ein weiterer Begleiteffekt der Anti-Stigma-Aktivitäten liegt in der Verbesserung der Kommunikation und Kooperation zwischen den von psychischer Erkrankung betroffenen Gruppen. Es wäre noch vor 10 Jahren undenkbar gewesen, dass an Schizophrenie Erkrankte, Angehörige und Psychiater gemeinsam und partnerschaftlich Anti-Stigma-Aktivitäten planen oder Kongresse gestalten. Diese Kampagne trug sicherlich dazu bei, dass bestehende Barrieren aufgeweicht wurden und neue Paradigmen wie Empowerment und Recovery15 Fuß fassen konnten. Mit diesem Paradigmenwechsel werden Forderungen vertreten, die heute auch von der Gesundheitspolitik für die Weiterentwicklung der Psychiatrie als wichtig erachtet werden.

Stärkung von Resilienzfaktoren: Zu fordern ist, dass Anti-Stigma-Aktivitäten einen festen Platz in der Routinebehandlung einnehmen sollten, da die häufig anzutreffende Selbststigmatisierung ein wesentliches Hindernis für die Genesung von Patienten darstellt. In diesem Zusammenhang gewinnen die Kenntnisse zur sogenannten „Stigma-Resistenz“ für die Behandlung an Bedeutung16. Darunter fällt die Ausbildung bzw. Stärkung jener Resilienzfaktoren, die geeignet sind, dem „internalisierten Stigma“ zu begegnen. Betroffene neigen dazu, sich selbst abzuwerten und auszugrenzen. Sie erleben sich nicht mehr als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft und es fällt ihnen noch schwerer, die bestehenden Hürden in Bezug auf Behandlung, Partnerschaft und Arbeit zu bewältigen. Daraus kann sich eine „zweite Erkrankung“ entwickeln3, die eine Genesung behindert und die daher in der Therapie berücksichtigt werden sollte.

1 Weltgesundheitsorganisation Europaregion: Europäische Erklärung zur psychischen Gesundheit. Herausforderungen annehmen, Lösungen schaffen. 2005. http://www.euro.who.int/dokument/mnh/gdoc07.pdf

2 Schulze B., Angermeyer MC, Perspektivenwechsel: Stigma aus der Sicht schizophren Erkrankter, ihrer Angehörigen und von Mitarbeitern in der psychiatrischen Versorgung. Neuropsychiatr 2002; 16:78-86

3 Finzen A, Psychose und Stigma. Stigmabewältigung – zum Umgang mit Vorurteilen und Schuldzuweisung. Psychiatrie-Verlag, Bonn, 2000

4 Holzinger A, Dietrich S, Heitmann S, Angermeyer MC, Evaluation zielgruppenorientierter Interventionen zur Reduzierung des Stigmas psychischer Krankheit: Eine systematische Übersicht. Psychiat Prax 2008; 35:376-386

5 Meise U, Sulzenbacher H, Kemmler G, Schmid R, Rössler W, Günther V: „… nicht gefährlich , aber doch furchterregend“. Ein Programm gegen Stigmatisierung von Schizophrenie in Schulen. Psychiat Prax 2000; 27:230-346

6 Pfeiffer-Gerschel T, Wittmann M, Hegerl U, Die „European Alliance against Depression (EAAD)- ein europäisches Netzwerk zur Verbesserung der Versorgung depressiv erkrankter Menschen. Neuropsychiatr 2007; 21:51-58

7 Sartorius N, Schulze H, Reducing the stigma of mental illness. A report from a global programme of the World Psychiatric Association. Cambridge University Press, Cambridge, 2005

8 Schöny W, Schizophrenie hat viele Gesichter. Die Österreichische Kampagne zur Reduktion des Stigmas und der Diskriminierung wegen Schizophrenie. Neuropsychiatr 2002; 16:48-53

9 Gaebel W, Zäske H, Baumann AE, Klosterkötter J, Maier W, Decker P, Möller HJ, Evaluation of the German WPA „program against stigma and discrimination because of schizophrenia- Open the Doors“: results from representative surveys before and after three years of antistigma interventions. Schizophr Res 2008; 98:184-193

10 Grausgruber A, Schöny W, Grausgruber-Berner R, Koren G, Frajo-Apor B, Wancata J, Meise U, „Schizophrenie hat viele Gesichter- Evaluierung der österreichischen Anti-Stigma-Kampagne 2000-2002. Psychiat Prax 2009; 36:327-333

11 Fabrega H, Psychiatric stigma in the classical and medievial period: a review of the literature. Compr Psych; 31:289-306 (1990)

12 Paykel ES, Hart D, Priest RG, Changes in public attitudes to depression during the “Defeat Depression Campaign”. British Journal of Psychiatry 1998; 173:519-522

13 Kohlbauer D, Meise U, Schenner H, Sulzenbacher H, Frajo-Apor B, Meller H, Günther V, Verändert der Unterricht über Depression die Einstellungen gegenüber Schizophrenie? Eine zielgruppenorientierte Anti-Stigma-Intervention. Neuropsychiatr; 24:132-140 (2010)

14 Sartorius N, Iatrogenic stigma of mental illness. BMJ 2002; 324:473-482

15 Schrank B, Amering M, Recovery in der Psychiatrie. Neuropsychiatr 2007; 21:45-50

16 Sibitz I, Unger A, Woppmann A, Zidek T, Amering M, Stigma resistance in patients with schizophrenia. Schizophr Bull 2011; 37:316-23