Bewerber gesucht

Nach wie vor gibt es gravierende Engpässe bei Benannten Stellen in Europa. Gibt es Lösungsvorschläge, wie rasch gegensteuert werden könnte?

Das System der Benannten Stellen gemäß IVDR und MDR braucht mehr Antragsteller und das Benennungsverfahren muss deutlich beschleunigt werden. Die hohen ­Anforderungen der Verordnungen für Benannte Stellen wie zu Beispiel Unabhängigkeit oder Unvoreinge­nommenheit sind wesentlich und sollten nicht gelockert werden. Jedoch hat sich der Prozess, in dem eine Organisation die Erfüllung dieser Standards nachweist, als übermäßig bürokratisch erwiesen und sollte überdacht werden. Die Anzahl der Benannten Stellen ist wohl weniger wichtig als die Gesamtkapazität des Systems der Benannten Stellen. Jegliche Maßnahmen, die dem massiven Kapazitätsmangel gegensteuern, sind zu begrüßen.

Sind Remote-Audits für Medizinprodukte und In-vitro Diagnostika eine mögliche Lösung zur Beschleunigung?

Remote- und/oder Hybrid-Audits könnten tatsächlich helfen, sowohl bei den Audits, die von den Benannten Stellen durchgeführt werden, als auch bei jenen, in denen die ­nationalen Benennungsstellen bewerten, ob ein Bewerber die entsprechenden Anforderungen für eine Benannte Stelle erfüllt.
Im Fall der von den Benannten Stellen durchgeführten Audits stellen Remote- und/oder Hybrid-Audits vor allem eine Lösung als Unterstützung im Bewertungsprozess technischer Unterlagen und von Qualitätsmanagement­systemen dar, sodass die begrenzten Ressourcen der Benannten Stellen effizienter eingesetzt werden können.
Für beide Arten von Audits gilt jedoch, dass Remote- und/oder Hybridansätze eine sinnvolle Absicherung für potenzielle künftige Lockdowns und Reisebeschränkungen im Zusammenhang mit Krisenfällen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, zum Beispiel dem Ausbruch von Infektionskrankheiten, darstellen. Die Europäische Vereinigung für Benannte Stellen für Medizinprodukte (European Association for Medical Device Notified Bodies, Team-NB) hat im Mai 2021 eine Analyse mit den bisherigen Erfahrungen der Benannten Stellen mit Remote-Audits veröffentlicht1.

Wie viele Benannte Stellen haben wir ­aktuell in Europa, die bereits voll ­arbeitsfähig sind und wie viele können wir noch heuer ­erwarten?

Aktuell haben wir sieben gemäß IVDR und 28 gemäß MDR. Obwohl vonseiten der EU-Kommission keine öffentlich zugänglichen und transparenten Informationen hinsichtlich des Zeitpunkts, wann die nächsten Bewerber zugelassen werden, verfügbar sind, geht MedTech Europe davon aus, dass bis Ende des Jahres 2022 bis zu neun weitere Benannte Stellen gemäß MDR und bis zu zwei weitere Benannte Stellen gemäß IVDR benannt werden könnten.
Wie „arbeitsfähig“ diese Benannten Stellen sind, lässt jedoch Interpretationsspielraum zu. Aufgrund weit verbreiteter Berichte, dass Benannte Stellen zwischen 12 und 18 Monate oder sogar noch länger benötigen, um einzelne Unterlagen von Herstellern zu bearbeiten, haben unsere Mitglieder den Eindruck, dass im System der Benannten Stellen die Ressourcen überlastet sind.

Wie lange dauert im Schnitt ein ­Benennungs- und Zertifizierungsverfahren für Benannte Stellen?

Als der Benennungsprozess für Benannte Stellen gemäß IVDR/MDR im Jahr 2017erstmals gestartet wurde, hieß es, dass das Verfahren im Durchschnitt 18 Monate dauern würde. Tatsächlich dauert es aber viel länger, im Fall der IVDR jetzt im Durchschnitt 30 Monate. Das ist viel zu lang und führt nicht nur zu einer späten Verfügbarkeit von Benannten Stellen. Es schreckt auch Organisationen davon ab, überhaupt einen Antrag zur Benennung als Benannte Stelle einzubringen.
Von Organisationen wird verlangt, dass Sie zum Zeitpunkt ihres Antrags Medizinprodukte-Ex­perten im Team – und auf der Gehaltsliste – haben. Es ist daher eine extrem anspruchsvolle Anforderung, dass diese Organisationen Jahre warten, bis sie mit der Durchführung von Konformitätsbewertungen beginnen können und damit Einnahmen erzielen können. Die Benennungsverfahren müssen daher massiv beschleunigt werden.

Wie lange dauert es im Schnitt, ein Produkt neu zuzulassen, wie lange eine ­Rezertifizierung?

Für die IVDR: Die Zeit vom Antrag bis zur Zertifizierung liegt bei der IVDR bei neun bis zwölf Monaten für Tests der Klassen B und C und zwischen 18 und 24 Monaten für komplexere Fälle wie Tests der Klasse D oder begleitende Diagnostika.
Für die MDR dauert es vom Antrag bis zur Zertifizierung zwischen 13 und 18 Monate für alle Risikoklassen der Produkte.
Die genannten Zeitrahmen gelten aber immer erst ab dem Zeitpunkt, ab dem eine Benannte Stelle den Antrag eines Herstellers annimmt. Es kann aber Monate dauern, bis eine Benannte Stelle eine erste Vereinbarung mit einer Benannten Stelle unterzeichnet.

Gibt es Produkte, wo schon konkret ­Engpässe erkennbar sind?

Im Jänner 2022 wurden die Übergangsfristen für die meisten IVDs um drei bis fünf Jahre verlängert. Dadurch wurde das „unmittelbare“ Risiko von Engpässen reduziert. Wir ­befürchten dennoch, dass es auf Basis der IVDR ­schwierig sein wird, eine zeitnahe Zertifizierung und Verfügbarkeit von innovativen Tests, Klasse-D-Tests und begleitenden Diagnostika zu unterstützen. Aktuell möchten wir aber noch nicht von Engpässen sprechen.
Anders sieht es bei Produkten aus, die nach MDR zugelassen werden. Nach einer von MedTech Europe durchgeführten Umfrage sind Engpässe in praktisch jeder Produktkategorie zu erwarten, wenn nicht rasch Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Zu den am stärksten betroffenen Produktkategorien scheinen orthopädische Produkte, chirurgische Instrumente und medizinische Software zu gehören. Eine weitere, von Spectaris in Deutschland durchgeführte Umfrage bestätigt diese Ergebnisse und führt zusätzlich die Kategorie von Dentalprodukten an.

Die EUDAMED Datenbank soll erst 2023 verfügbar sein. Welche Auswirkungen hat das auf die Betriebe?

EUDAMED ist entscheidend für die Umsetzung zahlreicher Ziele der Verordnung in die Praxis, zum Beispiel die transparente Information der Öffentlichkeit und einheitliche Anforderungen für Betriebe. IVDR und MDR enthalten komplexe Übergangsbestimmungen, die so lange gelten, bis EUDAMED verfügbar und voll arbeitsfähig ist. So müssen Betriebe beispielsweise bis dahin verschiedene Informationen nicht in EUDAMED selbst erfassen, sondern in bis zu 27 nationalen Datenbanken.