Chancen und Risiken erkennen

Die Pandemie hat deutlich vor Augen geführt, dass die Güter, die wir konsumieren, meist eine Reihe von Landesgrenzen überqueren, bis sie beim heimischen Konsumenten ankommen. Das gilt auch für Medizin­produkte. Diese globalen Warenketten bleiben nicht ohne Folgen für die Gesellschaft und die Umwelt: Betriebe sind gefordert, ihre Umweltkosten, Arbeitsbedingungen oder soziale Auswirkungen entlang der Lieferkette nicht nur zu beachten, sondern auch transparent offenzulegen. „Damit erkennt man nicht nur Chancen, sondern auch Risiken schon frühzeitig. Das sind zum Beispiel Frühwarnungen im Fall von Lieferausfällen oder im schlechtesten Fall Betriebsschließungen sowie Konfliktherde“, erklärt Jasmine Schweitzer, Nachhaltigkeitsmanagerin in einem Unternehmen der Medizinprodukte-Branche, einen der Vorteile. Darüber hinaus kann sich jedes Unternehmen, das die Belange der Menschen und der Umwelt ernst nimmt, als attraktiver Arbeitgeber positionieren, kann mit diesen Vorteilen bei Ausschreibungen punkten oder Kunden für sich gewinnen. „Projekte unter dem grünen Feigenblatt reichen hier aber schon lange nicht mehr. Harte und transparente Kennzahlen etwa in puncto Wasser- oder CO2-Bilanz sind gefordert. Gibt es Schwach­stellen, sind Prozessverbesserungen umzusetzen“, bringt es Schweitzer auf den Punkt.

Lieferketten im Visier

Eine Studie im Auftrag der EU-Kommission hat Anfang 2020 festgestellt, dass nur jedes dritte Unternehmen Maßnahmen zur Überprüfung der globalen Lieferkette setzt. Anders gesagt: Zwei Drittel der Betriebe wissen nicht oder nicht genau, wie es mit Menschenrechten oder Umweltauswirkungen ihrer betrieblichen Tätigkeit in anderen Ländern aussieht. Daran ändern auch viele unübersichtliche Umweltgütesiegel, PR-wirksame Sponsor­aktionen oder soziale Spendenprojekte nichts. Eine systematische Erfassung fehlt.
Deutschland und auch Frankreich sind dann mit einem sogenannten Sorgfaltspflichtengesetz vorgeprescht. Anlass war der Brand in einer chinesischen Textilfabrik. „Auch wir haben Anfragen bekommen, ob wir Rohstoffe für unsere Produkte aus diesem Betrieb ­beziehen“, erinnert sich die Nachhaltigkeits­managerin.
Das Gesetz betrifft Großkonzerne mit Hauptsitz in diesen Ländern. Das deutsche Gesetz gilt für Unternehmen ab 3.000 Beschäftigten, ab 2024 ab 1.000 Beschäftigten. Damit wären knapp 2.900 Unternehmen betroffen. Im französischen Gesetz, das seit Anfang 2017 in Kraft ist, ist die Schwelle noch höher. Es erfasst Großunternehmen mit mehr als 5.000 Mitarbeitern in Frankreich selbst bzw. 10.000 weltweit. „Auch österreichische Betriebe, die dort ihre Niederlassungen haben, sind demnach davon betroffen“, erklärt Schweitzer und ergänzt: „Die Maßnahmen, um die Anforderungen aus dem Gesetz zu erfüllen, können in einem Unternehmen gar nicht mehr abgedeckt werden. Es braucht Plattformen zur Abbildung der Risikolandschaft und das dynamische Anpassen der Information, aber auch der jeweils aktuellen Maßnahmen.“

Was bringt es wirklich?

Eine aktuelle Studie der OECD zeigt, dass sozial und ökologisch handelnde Unternehmen Krisen – wie etwa die Corona-Lockdowns – besser überstehen, da ihre Lieferketten resilienter sind.1 Ein Lieferkettengesetz verpflichtet nach Ansicht der EU-Entscheidungsträger alle im Wettbewerb stehenden Betriebe dazu, verantwortungsvoll zu handeln. „Damit werden die Betriebe produktiver und wettbewerbsfähiger. Die Kontrolle und Umsetzung von Arbeits- und Umweltstandards mag kurzfristig Kosten verursachen – langfristig spart sie Kosten“, ­meinen die Befürworter. Zudem schafft das Gesetz Rechtssicherheit und gleiche Regeln für alle und es gibt keine Belege, dass vergleichbare Gesetze in anderen Ländern dafür gesorgt ­hätten, dass sich Unternehmen aus bestimmten Regionen zurückziehen oder Lieferbeziehungen kappen. Ein Lieferkettengesetz verpflichtet Unternehmen sich zu bemühen, aber nicht auch zum Erfolg. Alle Maßnahmen müssten „angemessen sein“ und kein Unternehmen dürfe für Vorlieferanten haften, wenn es genug Sorgfalt bei der Auswahl getroffen hat.
An einem europäischen Lieferkettengesetz führt vermutlich kein Weg mehr vorbei, doch wie es ausgestaltet sein wird, ist noch unklar. Das EU-Parlament hat im März 2021 einen Entwurf für ein europäisches Lieferkettengesetz be­schlos­sen. In Kürze wird ein Richtlinienvorschlag des Europaparlaments erwartet.

Was von Unternehmen erwartet wird

Unternehmen sollen dafür sorgen, dass ihre Lieferanten nicht gegen das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit verstoßen, für die Gesundheit und Sicherheit ihrer Beschäftigten sorgen und angemessene Löhne zahlen. Die umfassendsten Sorgfaltspflichten bestehen dabei für die direkten Lieferanten des jeweiligen Betriebs. Alle anderen Subzulieferer in der Lieferkette bis hinunter zum Rohstoffproduzenten – so ist es in Deutschland aktuell geregelt – müssen lediglich abgestuft überprüft werden. Bei Verstößen und dem Nachweis, dass Unternehmen nicht ausreichend Maßnahmen gesetzt haben, drohen Bußgelder bis zu zehn Prozent des Umsatzes. Zudem ist geplant, sie bis zu drei Jahre von öffentlichen Ausschreibungen auszuschließen. Allerdings unterliegen sie keiner zivilrechtlichen Haftung, und müssen daher nicht im vollen Umfang für entstandene Schäden aufkommen. In Österreich liegt seit 19.3.2021 ein Volksbegehren auf, das von mehreren zivilgesellschaftlichen Initiativen initiiert wurde und zum Ziel hat, dem deutschen Beispiel folgend ein Lieferkettengesetz zu beschließen. Es soll Unternehmen und Konzerne verpflichten, den Produktionsprozess ihrer Waren lückenlos zu dokumentieren und transparent offenzulegen sowie Menschenrechts-, Arbeits-, Tier- und Umweltschutz entlang der Lieferkette ebenso zu garantieren wie bei in Österreich produzierten Produkten. Verletzungen dieser Sorgfaltspflichten sollen wirksame Sanktionen nach sich ziehen
„Aktuell ist kein unmittelbarer Handlungsbedarf gegeben, doch ein Gesetz wird erwartet. Unternehmen sollen sich bereits jetzt mit dem Thema auseinandersetzen und ihre Sorgfaltspflichten nach den Vorgaben des deutschen Lieferkettengesetzes anpassen – also beispielsweise die Einführung eines Risikomanagements mit Menschenrechtsbeauftragten, die Erstellung und Aktualisierung einer Grundsatzerklärung, eine Risikoanalyse oder die Erstellung von Verhaltensleitfäden für das eigene Unternehmen und für Lieferanten“, rät Schweitzer.
Der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) spricht sich in seiner Stellungnahme zum Vorschlag der EU-Kommission einer Liefer­kettensorgfaltspflichten-Richtlinie „Corporate Sustainability Due Diligence Directive“ (CSDDD) für einen Abgleich mit dem bereits bestehenden nationalen Gesetz und für eine Begrenzung der Regelungen auf die direkten Zulieferer aus. „Wir begrüßen eine Stärkung von Menschenrechten weltweit. Der EU-Kommissionsvorschlag ist jedoch aus Sicht des BVMed in seiner momentanen Fassung unzureichend, um rechtssichere und praktikable Regeln für Unternehmen zu schaffen. Es besteht vielmehr die Gefahr, dass der Entwurf die Unternehmen der Branche, die sich im Moment ohnehin schon mit angespannten Lieferketten konfrontiert sehen, überfordern und in der Umsetzung überlasten könnte“, heißt es vonseiten des BVMed.

Im Fokus des Lieferkettengesetzes („LiefKettG“) steht der weltweite Schutz der Arbeitnehmer und der Umwelt, um einen gesetzlichen Rahmen für die Sorgfaltspflicht entlang der Lieferkette zu schaffen. Europäische Unternehmen müssen demnach ihre Lieferanten auf die Einhaltung sozialer und ökologischer Mindeststandards überprüfen.