Diabetes im Alter – Physiologische Besonderheiten, therapeutische Herausforderungen

Entsprechend der Definition der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG) ist ein geriatrischer Patient ein biologisch älterer, durch alternsbedingte Funktionseinschränkungen bei Erkrankungen akut gefährdeter Patient, der zur Polymorbidität neigt und bei dem ein besonderer Handlungsbedarf in rehabilitativer, somato-psychischer und psychosozialer Hinsicht besteht. Vor allem Menschen im Alter über 80 Jahren weisen aufgrund altersassoziierter Einschränkungen von Organfunktionen und immunologischer Mechanismen ein hohes Risiko für Krankheitskomplikationen, Arzneimittelnebenwirkungen und interaktionen sowie eine hohe Pflegeabhängigkeit auf. Charakteristische Krankheitssymptome wie Schmerzen oder Fieber können beim geriatrischen Patienten aufgrund einer Neuropathie oder der gestörten Temperaturregulation fehlen. Anstelle organtypischer Symptome zeigen geriatrische Patienten in Folge einer akuten Erkrankung häufig Verschlechterungen des kognitiven oder funktionellen Status wie Verwirrtheit, Sturzneigung und Inkontinenz.
Für die Prognose häufig entscheidender als die Erkrankung selbst ist das Vorliegen geriatrischer Syndrome, insbesondere von „Frailty“ (Gebrechlichkeit), Gangunsicherheit, Immobilität und kognitiven Defiziten. Chronische Schmerzen, Mangelernährung und soziale Isolation schränken die Lebensqualität des geriatrischen Patienten ein. Die Multimorbidität, definiert durch das gleichzeitige Vorhandensein mehrerer signifikanter Erkrankungen, die behandlungsbedürftig sind, ist bei älteren Patienten häufig („Abgrenzungskriterien der Geriatrie“ basierend auf den Ergebnissen der „Essener Konsensus-Konferenz“; www.geriatrie-drg.de). Es wird geschätzt, dass im Alter über 80 Jahre rund 30 % der Menschen sieben oder mehr körperliche Gebrechen aufweisen. Im Hinblick auf die erhöhte Vulnerabilität geriatrischer Patienten wird deshalb auch in der Diabetestherapie empfohlen, die Zielwerte und Behandlungsformen an die individuellen Bedürfnisse des Patienten anzupassen.

Geriatrisches Assessment

Das geriatrische Assessment (siehe auch Beitrag Sturz- und Frakturprophylaxe) ist eine systematische, multidisziplinäre Evaluation des ­älteren Menschen und erfasst mittels standardisierter Testverfahren und Befragungen die funktionellen und kognitiven Ressourcen sowie im Rahmen des Ernährungsassessments das Malnutritionsrisiko (Rubenstein et al., N Engl J Med 1984; Ellis et al., Cochrane Database Syst Rev 2011). Die Behandlungsempfehlungen beziehen sich hinsichtlich der HbA1c-Zielwerte beim älteren Patienten auch auf den funktionellen Zustand – unabhängig („go go“), eingeschränkt („slow go“) oder pflegebedürftig („no go“).

Pathophysiologie des Diabetes mellitus im Alter

Bei Neumanifestation eines Diabetes mellitus im höheren Lebensalter sind die altersassoziierte Zunahme der Insulinresistenz, aber auch die Beeinträchtigung der pankreatischen Insulinsekretion als ursächliche Faktoren anzuführen (Scheen, Diabetes Metab 2005; Gong et al., Int J Endocrinol 2012; Han et al., Br Med Bull 97:169, 2011; Abb. 1). Altern geht mit einer Reduktion der Muskelmasse, Zunahme der Fettmasse und einem abdominellen Fettverteilungsmuster einher (Abb. 2). Infolge dieser altersassoziierten Veränderungen der Körperzusammensetzung findet sich eine Zunahme der Insulinresistenz. Die gesteigerte subklinische Inflammation im höheren Lebensalter („inflammaging“) trägt neben den endokrinologischen und metabolischen Beeinträchtigungen auch zum erhöhten Risiko altersassoziierter Erkrankungen und Funktionseinschränkungen bei.

 

 

 

Typ-2-Diabetes mellitus gilt als „Pro-aging“-Erkrankung, da degenerative Veränderungen früher und ausgeprägter auftreten als bei Nichtdiabetikern. Als pathophysiologische Mechanismen werden die Akkumulation von „advanced glycated end-products“ (AGE; Yaffe et al., Neurology 2011), die mitochondriale Dysfunktion und die metabolischen Veränderungen im Rahmen der Insulinresistenz diskutiert (Horan et al., J Gerontol 2011). Rezente Publikationen konnten bei Typ-2-Diabetikern mit vaskulären Komplikationen eine Verkürzung der Telomerenlänge als Ausdruck akzelerierter Alternsveränderungen aufzeigen (Salpea et al., Atherosclerosis 2010, Monickaraj et al., Mol Cell Biochem 2012).

Diabetes mellitus und geriatrische Syndrome

Geriatrische Syndrome – vor allem Malnutrition, Immobilität, Instabilität und Sturzneigung, kognitive Funktionseinschränkungen, Inkontinenz, Visuseinschränkungen, Hörverminderung, Schlafstörungen und Depressionen – treten bei Patienten mit Diabetes mellitus häufiger auf als in der nichtdiabetischen Vergleichspopulation (Abb. 3). Geriatrische Syndrome sollten bei der Festlegung der therapeutischen Zielwerte und der Behandlungsform berücksichtigt werden, um eine für den einzelnen Patienten adäquate Therapie zu gewährleisten (siehe die entsprechenden Beiträge in diesem Heft).

 

 

Malnutrition und Frailty. Das Malnutritionsrisiko ist bei älteren Menschen aufgrund von altersassoziierten Veränderungen des Appetit- und Sättigungsverhaltens, Komorbiditäten, gastrointestinalen Funktionsstörungen, der Polypharmazie sowie psychosozialen und funktionellen Einschränkungen erhöht (Drey et al., Dtsch Med Wochenschr 2011). Eine krankheitsbedingte Gewichtsreduktion wird beim älteren Menschen aufgrund protrahierter Sättigungsmechanismen und einer verminderten Appetitstimulation häufig nicht ausreichend kompensiert. Unter anderem ist die Stimulation der Nahrungsaufnahme durch Ghrelin im Alter beeinträchtigt (Bauer et al., J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2010; Moss et al., J Hum Nutr Diet 2011). Das Vorliegen einer Malnutrition wie auch die subklinische Inflammation bewirken eine überproportionale altersassoziierten Abnahme der Skelettmuskelmasse (Sarkopenie; Chung et al., Antiox Redox Signal 2006; Zoico et al., J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2010). Strikte und einseitige Diätformen sind aufgrund des erhöhten Malnutritionsrisikos für geriatrische Patienten deshalb grundsätzlich obsolet.
Hinsichtlich der Zielwerte für das Körpergewicht, den Body Mass Index (BMI) und den Taillenumfang bei älteren Menschen fehlen bislang altersadaptierte Normwerte mit Bezugnahme auf ein erhöhtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko. Daten aus epidemiologischen Untersuchungen zeigen, dass die Korrelation zwischen Mortalität und BMI bei älteren Menschen U-förmig verläuft (Freedman et al., Int J Obes 2006; Stevens et al., N Engl J Med 1998). Ein signifikanter Anstieg der Risikokurve im Übergewichtsbereich fand sich für über 65-Jährige erst ab einem BMI von über 30 kg/m2 und damit bei Vorliegen einer Adipositas. Rezente Konsensusempfehlungen schränken die Indikationsstellung zur Gewichtsreduktion bei älteren Patienten deshalb auf das Vorliegen einer Adipositas mit entsprechenden Komorbiditäten ein (Mathus-Vliegen et al., Obes Facts 2012).
Ein ungeplanter Gewichtsverlust von über 10 % innerhalb eines Jahres (oder mehr als 5 % in 6 Monaten), Muskelschwäche, Erschöpfung, Immobilität und erhöhte Sturzneigung sowie eine herabgesetzte körperliche Aktivität charakterisieren das geriatrische Syndrom der Frailty (Fried et al., J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2001). Bis zu 60 % der geriatrischen Patienten sind von Frailty betroffen (Sternberg et al., J Am Geriatr Soc 2011). In der San Antonio Longitudinal Study of Aging konnte nachgewiesen werden, dass das Vorliegen eines Diabetes mellitus mit makrovaskulären Komplikationen einen Prädiktor für die Progression der Charakteristika von Frailty darstellt (Espinoza et al., J Am Geriatr Soc 2012).

Sarkopenische Adipositas findet sich zunehmend häufig. Die therapeutischen Maßnahmen müssen dabei das Risiko einer weiteren Verringerung der Skelettmuskelmasse besonders berücksichtigen und sollten adäquate Ernährungsempfehlungen und Bewegungsprogramme kombinieren. Zur Prävention und Therapie von Frailty werden grundsätzlich eine ausreichende Energieversorgung, die Zufuhr hochqualitativer Proteine und von Vitamin D und ein angepasstes körperliches Training empfohlen (Volkert et al., Clin Nutr 2006).

Immobilität und Sturzrisiko. Diabetiker weisen aufgrund komplexer Mechanismen wie Neuropathie, Immobilität, Gangunsicherheit, Vorliegen eines diabetischen Fußsyndroms, Visuseinschränkungen oder Nebenwirkungen von Medikamenten ein erhöhtes Sturzrisiko auf (Volpato et al., J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2005). Die Women’s Health and Aging Study konnte aufzeigen, dass bei älteren Frauen mit Diabetes gegenüber Nichtdiabetikern ein 2,3-fach erhöhtes Risiko für Gehbehinderungen besteht und ein 1,6-fach erhöhtes Risiko für Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens (Volpato et al., Diabetes Care 2002).

Depression und Demenzrisiko bei Diabetes. In der Health, Aging and Body Composition Study zeigten Diabetiker im Lebensalter von 70–79 Jahren ein mit 23,5 % erhöhtes Risiko für depressive Erkrankungen gegenüber 19 % bei Nichtdiabetikern (Maraldi et al., Arch Intern Med 2007). Darüberhinaus ist das Demenzrisiko bei Typ-2-Diabetikern um bis zu 3-fach erhöht (Cukierman et al., Diabetologia 2005). Depressive Störungen und kognitive Einschränkungen führen zu einer Beeinträchtigung der Therapieumsetzung und erhöhen das Risiko für diabetische Spätkomplikationen (Araki & Ito, Geriatr Gerontol Int 2009; Abb. 3).

Harninkontinenz. Auch das Harninkontinenzrisiko ist bei diabetischen Patienten erhöht, wobei insbesondere die autonome Neuropathie den Blasenfunktionsstörungen („overflow incontinence“) zugrunde liegt (Lifford et al., J Am Geriatr Soc 2005). Bei postmenopausalen Frauen im Alter von 55–75 Jahren fand sich bei insgesamt 52 % der Probandinnen eine unterschiedlich ausgeprägte Form der Harninkontinenz (Jackson et al., Diabetes Care 2005). Die Diabetesdauer, das Vorliegen einer Neuropathie und Retinopathie sowie rezidivierende Harnwegsinfekte waren mit dem Schweregrad der Harninkontinenz assoziiert.

Polypharmazie und Arzneimittelinteraktion

Das Risiko von Arzneimittelnebenwirkungen ist bei geriatrischen Patienten grundsätzlich erhöht und steigt bei Einnahme von mehr als 5 Medikamenten um das bis zu 10-Fache an. Bei geriatrischen Typ-2-Diabetikern mit Hypertonie, Dyslipidämie und manifesten kardiovaskulären Erkrankungen ist eine Priorisierung und differenzierte Abwägung der Medikation entsprechend einzelner Leitlinienempfehlungen notwendig, um die Polypharmazie und das Risiko für unerwünschte Arzneimittelinteraktionen zu verringern (Gaede et al., N Engl J Med 2008; Tornio et al., Trends Pharmacol Sci 2012). Vor- und Nachteile der medikamentösen Therapie wie auch die Indikationsstellung und Dosierung sollten regelmäßig überprüft werden (Medication Appropriateness Index nach Hanlon et al., J Clin Epidemiol 1992).

In der antiglykämischen Therapie muss die altersassoziierte Einschränkung der Nierenfunktion als mögliche Kontraindikation für die Metformin-Therapie berücksichtigt werden. Der appetithemmende und gewichtsreduzierende Effekt von Metformin kann nachteilig für untergewichtige Patienten sein. Bei Sulfonylharnstoffderivaten und Repaglinid ist das erhöhte Hypoglykämierisiko bei geriatrischen Patienten besonders zu beachten. Für Pioglitazon besteht eine Kontraindikation bei Herzinsuffizienz, bei älteren Frauen wurde unter Glitazontherapie eine Zunahme des Risikos peripherer Knochenfrakturen beschrieben. Klinische Studien über die Effektivität und Sicherheit von DPP-4-Inhibitoren haben ältere Diabetiker miteinbezogen. Von Vorteil ist das gegenüber Sulfonylharnstoffen deutlich niedrigere Hypoglykämierisiko. Eine ausführliche Darstellung der antidiabetischen Therapie erfolgt in den entsprechenden Beiträgen dieses Heftes.