Sturz- und Frakturprophylaxe – Risiko evaluieren, Funktionen prüfen, zum Training anhalten

Ein Sturz ist ein unfreiwilliger und unkoordinierter Bodenkontakt. Mit dem Alter steigt das Risiko für Stürze (Tinetti, New Engl J Med 2003). Für die Lebenserwartung und die Lebensqualität ist allerdings nicht der Sturz per se, sondern die sturzassoziierte Fraktur bedeutend. Mit steigender Lebenserwartung steigt auch die Inzidenz von Osteoporose und somit das Risiko für „Low trauma“-Frakturen.
Daher ist die Früherkennung von Sturzrisikofaktoren und entsprechende Intervention entscheidend (American Geriatrics Society/British Geriatrics Society Clinical Practice Guideline for Prevention of Falls in Older Persons, JAGS 2010). Um die gefährdeten Personen frühzeitig zu identifizieren, sollte zumindest einmal im Jahr nach Gangunsicherheit, Sturzangst bzw. Stürzen gefragt werden (Tab. 1). Diese zählen zu den wichtigsten Indikatoren für mangelnde ­Sicherheit.

 

 

Personen mit metabolischem Syndrom haben im Vergleich zu gleichaltrigen Gesunden ein erhöhtes Sturzrisiko (Pijpers et al., Age and Ageing 2012). Schwartz et al. (Diabetes Care 2012) zeigten in einer prospektiven Verlaufsstudie an einer Gruppe adäquat behandelter Diabetiker der ACCORD-Studie (medianes HbA1c 6,4 % bzw. 7,5 %; HbA1c-Umrechnungstabelle), dass Diabetiker zwar ein hohes Risiko für Stürze (60,8 bzw. 55,3 Ereignisse bezogen auf 100 Personenjahre) und nichtvertebrale Frakturen (1,39 bzw. 1,33 pro 100 Personenjahre) haben, dass sich aber die intensivierte Kontrolle des Blutzuckerspiegels und das Sturzrisiko nicht signifikant beeinflussen. Die Sturzursache scheint also nicht primär mit dem Blutzuckerspiegel an sich bzw. mit der Blutzuckerspiegeleinstellung assoziiert zu sein, sondern vielmehr mit den langfristigen Begleitschäden.
Die Arbeitsgruppe um Joshua I. Barzilay (Diabetes Care 2009) konnte bei insulinpflichtigen Diabetikern im Vergleich zu einer gesunden Vergleichsgruppe eine Reduktion der Kraft des M. quadriceps nachweisen. Der zugrunde liegende Pathomechanismus ist noch nicht eindeutig geklärt. Dennoch könnte die relative Muskelschwäche, die langfristig zu einer funktionellen Beeinträchtigung führt, Hinweise auf inzipiente Sarkopenie geben. Die weiteren Risikofaktoren sind vielfältig. Sie betreffen das Sensorium, die periphere und zentrale Durchblutung und neben der Muskulatur den Knochenstoffwechsel. Auch Polypharmazie und die damit verbundenen Medikamenteninteraktionen und unerwünschten Nebenwirkungen spielen bei so komplexen Erkrankungen wie Diabetes und Osteoporose eine entscheidende Rolle für das Sturzrisiko.

Risikoevaluation im Rahmen des geriatrischen Basisassessments

Da Stürze multifaktoriell bedingt sind, müssen neben Muskelkraft, Koordination und eventuellen Sensibilitätsstörungen auch die vestibuläre Funktion, der Visus und die Kognition gestestet werden (Tab. 2). Das geriatrische Basisassessment ist hier im Screening hilfreich. Hier werden allerdings nur mobilitätsrelevante Instrumente vorgestellt.

 

 

Das Assessment von Gangbild und Sturzrisiko kann in unterschiedlichen Formen durchgeführt werden. Um die Aussagekraft zu verbessern, sollten Deckeneffekte berücksichtigt werden. Daher hat es sich bewährt, die Tests nach einer groben Funktionsbeurteilung auszuwählen:

Menschen, die im häuslichen Umfeld leben, selbstständig mobil sind und im Alltag gut zurechtkommen:

Short Physical Performance Battery (SPPB) nach Guralnik et al. (J Gerontol 1994). Dieser Test dient zur Beurteilung von Kraft, Gleichgewicht und Gehgeschwindigkeit. Grundvoraussetzung für die Anwendbarkeit ist, dass die untersuchten Personen frei stehen und zumindest kurze Strecken gehen können. Die Beurteilung erfolgt anhand von 3 Kriterien:

Balance: Stehen ohne Hilfsmittel mit geschlossenen Füßen, im Semitandemstand und im Tandemstand für jeweils zumindest 10 Sekunden.

Gehgeschwindigkeit: Es wird die frei gewählte Gehgeschwindigkeit auf einer Strecke von 4 Metern gemessen und beurteilt.

Kraft: Beim Chair-rising- oder Chair-stand-up-Test werden die Arme vor dem Körper verschränkt, der Proband wird aufgefordert, fünfmal hintereinander aufzustehen und sich wieder nieder zu setzen. Die dazu benötigte Zeit wird gemessen.

Der SPPB-Test ist einfach und weitgehend risikofrei durchführbar. Die Bewertung erfolgt durch Zeitmessung und durch Beobachtung. Die Interpretation ist einfach und gibt ein gutes Bild über die allgemeine Fitness der Patienten.

Handkraftmessung. Neben der Beurteilung der groben Kraft beim einfachen Aufstehen aus dem Sitzen ohne Mithilfe der Arme gibt die Handkraft einen guten Hinweis auf den Muskelstatus und die Fähigkeit der Rekrutierung der Muskelfasern. Allerdings ist die Reproduzierbarkeit von vielen Faktoren wie der Körperhaltung abhängig und die Vigorimeter müssen regelmäßig geeicht werden.
Six-Minute Walk Test. Dieser Test gibt Informationen über die alltagsrelevante Belastbarkeit und die Möglichkeit zur Outdoor-Aktivität. Er ist jedoch im Routinescreening nicht durchführbar. Grundsätzlich kann man bei der Anamnese auch auf die täglich zurückgelegte Strecke außerhalb der Wohnung zurückgreifen; diese ist ein Indikator für die körperliche Leistungsbreite, Belastbarkeit, aber auch für die Motivation und den Patientenwillen.

Menschen, die auf einen Gehbehelf angewiesen sind und bei erweiterten Aktivitäten des täglichen Lebens Unterstützung benötigen:

Timed Get-Up and Go Test. In einem standardisierten Prozess wird die benötigte Zeit für die Bewegungskette – Aufstehen von einem Stuhl, drei Meter Gehen, Umdrehen, Zurückgehen, Niedersetzen – gemessen. Ein Zeitbedarf von mehr als 10 Sekunden ist bereits ein Indikator für eine Mobilitätseinschränkung, bei mehr als 20 Sekunden besteht ein erhöhtes Sturzrisiko.
Bestimmung der Sturzangst mittels Falls Efficacy Scale-International (FES-I) Score. In sieben Fragen werden vor allem alltagsrelevante Handlungen angesprochen. Sturzangst per se ist ein Sturzrisikofaktor. Gleichzeitig führt die Angst aber auch zu Vermeidungsstrategien: Tätigkeiten werden nicht mehr durchgeführt, die Aktivität wird reduziert, die Muskelmasse nimmt ab und Autonomie geht verloren.

Kognition und Orientierung

Mini-Cog Test. Die Kognition beeinflusst auch die Einschätzung des individuellen Risikos bei alltagsrelevanten Tätigkeiten, wie das Wechseln von Glühbirnen. Wenn die eigenen Fähigkeiten nicht mehr richtig beurteilt werden können, steigt das Sturz- und Verletzungsrisiko.
In diesem Minimaltest werden räumliche Orientierung und Kurzzeitgedächtnis beleuchtet. Bei Auffälligkeiten muss zu einer ausführlichen neurophysiologischen Testung zugewiesen werden.

Ernährungsstatus

Der Ernährungsstatus, vor allem in seinem Verlauf, unterstützt bei der Identifikation weiterer Risikofaktoren. In der Praxis haben sich zwei Tests besonders bewährt:

Mini Nutritional Assessment Short-Form (MNA®-SF) mit Wadenumfang. Ernährungszustand und Essgewohnheiten haben einen direkten Einfluss auf den Muskelstatus. Gerade mit zunehmendem Alter steigt das Risiko für Mangelernährung, insbesondere für unzureichende Eiweißaufnahme. Fünf einfache Fragen unterstützen bei der Erfassung des individuellen Risikos. Diese werden durch die Messung des Body Mass Index (BMI) abgerundet. Bei älteren Menschen besteht bereits bei einem BMI von 21 kg/m2 ein erhöhtes Risiko für Mangelernährung. Alternativ dazu kann auch der Wadenumfang gemessen werden. Ein Grenzwert von 31 cm, gemessen im Bereich des größten Umfanges gibt Hinweise für reduzierte Muskelmasse und sollte zu einer weiteren Abklärung führen.
Short Nutritional Assessment Questionnaire (SNAQ). In drei Fragen wird zur Reflexion angeregt:

Haben Sie ungewollt Gewicht verloren?

Hatten Sie in den letzten Monaten weniger Appetit?

Haben Sie in den letzten Monaten Trinknahrung zu sich genommen oder wurden Sie mit einer Sonde ernährt?

Gleichzeitig muss aber auch auf das Phänomen der mangelernährten Übergewichtigen hingewiesen werden. Diese werden mit dem MNA nicht erfasst. Die Prävalenz nimmt im Alter zu. Reduzierte Muskelmasse und Kraft führen zu einem erhöhten Sturz- und meist auch Frakturrisiko.

Screening für Sarkopenie

Der Begriff Sarkopenie (sark = Fleisch, penia = Mangel, Verlust) wurde von Irwin H. Rosenberg 1988 geprägt und bezeichnet den altersassoziierten Muskelabbau und letzten Endes die Einschränkung der funktionellen Kapazität. Die Bedeutung der Sarkopenie war bereits vor der Begriffsdefinition ein bekanntes Problem des alternden Menschen. Osteoporose und Abnahme der Muskelmasse sind eng miteinander assoziiert. Beide gemeinsam sind wesentliche Faktoren für die „frailty“, die Gebrechlichkeit und das erhöhte Sturz- und Frakturrisiko im Alter.
Die Entstehung der Sarkopenie ist von zwei Faktoren abhängig – von der ursprünglichen Muskelmasse und dem jährlichen Ausmaß an Masseverlust. Letzterer liegt ab dem 50. Lebensjahr bei etwa 1–2 % pro Jahr. Die Reduktion der Muskelmasse wird durch spezielle Erkrankungen oder Medikamente (z. B. chronische Kortisoneinnahme) begünstigt, andererseits spielen Lebensstilfaktoren wie chronische Mangelernährung (vor allem zu geringe Aufnahme von Eiweiß) und Bewegungsarmut eine wesentliche Rolle. Die Muskelfasern unterliegen einem relativ hohen Turn-over – etwa 65–80 % der Aminosäuren werden wieder in die Synthese eingeschleust. Wachstumshormon, Insulin-like growth factor 1 (IGF-1) sowie Testosteron beeinflussen die Synthese. Kortisol fördert den Muskelfaserabbau. Daher sind die altersabhängige Hormonproduktion und deren Plasmaspiegel von wesentlicher Bedeutung für die Reduktion der Muskelmasse. Darüber hinaus nehmen die Mitochondrienaktivität sowie die maximale Sauerstoffaufnahme mit dem Alter ab. Letztlich konnte der Mechanismus der altersabhängigen Reduktion der Muskelmasse und der Muskelkraft noch nicht eindeutig geklärt werden. Die Prävention durch ausgewogene Ernährung und regelmäßiges Kraft- und Ausdauertraining scheint aber von besonderer Bedeutung zu sein. Es gibt erste Hinweise, dass die Supplementierung von Aminosäuren im Alter sinnvoll ist. Die eindeutige Bestätigung liegt noch nicht vor.
In der klinischen Diagnose der Sarkopenie werden die Muskelmasse, die Kraft und die Alltagsaktivität beurteilt. Bei einer isolierten Abnahme der Muskelmasse spricht man von Präsarkopenie. Bestehen gleichzeitig auch Zeichen der Kraftminderung oder funktionelle Defizite, spricht man von Sarkopenie. Liegen alle drei klinischen Kriterien vor spricht man von schwerer Sarkopenie. Die klinische Diagnose kann durch eine zusätzliche DEXA-Messung oder andere bildgebende Verfahren bestätigt werden.
Sarkopenie ist nicht nur mit einem erhöhten Sturzrisiko, sondern auch mit einer Verminderung der Autonomie und der Lebenserwartung assoziiert.

Prävention und Therapie

Grundsätzlich ist ein aktiver Lebensstil die wichtigste Voraussetzung für ein aktives Alter(n). In der Zusammenschau der überwiegend positiven Literatur und der klinischen Erfahrung kann weitgehend selbstständig lebenden Patienten mit Diabetes ein kombiniertes Ausdauer- und Krafttraining zur Prävention von funktionellen Einschränkungen empfohlen werden. Grundsätzlich führt dieses zum Erhalt der Muskelmasse und der Körperwahrnehmung. Sekundär kann von einer Reduktion des Sturzrisikos ausgegangen werden. Dennoch gibt es Sportarten, die per se zu Stürzen führen können, die aber bei jüngeren Menschen zumeist ohne Verletzungen einhergehen. Daher ist im Alter auf ein an Leistung und Fähigkeit angepasstes Training zu achten.
Die Guidelines empfehlen täglich 30 Minuten Ausdauertraining sowie bei Fehlen von Kontraindikationen dreimal wöchentlich Kraft- bzw. Widerstandstraining. Das Gewicht soll in Sets von 3-mal zehn Wiederholungen langsam gesteigert werden. Es werden vor allem die großen Muskelgruppen – Hüft- und Knieextensoren und Hüftbeuger sowie die Rumpf- und Bauchmuskulatur – trainiert. Muskelschmerzen während sowie nach dem Training sind zu vermeiden, da diese mit einem Laktatanstieg und möglicherweise mit entzündlichen Prozessen assoziiert sind.
Vor allem im Hinblick auf Lipidstoffwechsel, Körpergewicht und Muskelmasse ist konventionelles Training dem High-Intensity-Training überlegen. Vor allem in der Gruppe der über 65-Jährigen ist auch das Verletzungsrisiko geringer.
(Church T et al.: Combined Aerobic and Strength Training Improves Glucose Control in Diabetes. JAMA 2010; 304:2253–2262). In einer Cochrane-Analyse weisen Liu & Latham (Cochrane Database Syst Rev 2009) darauf hin, dass ein die Muskelkraft steigerndes Training die Gehgeschwindigkeit und den Timed Get-Up & Go Test nicht signifikant verändert. Es wird allerdings angemerkt, dass nachhaltige Programme und deren klinische Bewertung fehlen. Balance und Koordinationstraining führen durch eine Verbesserung der Körperwahrnehmung sowie der Koordination zu einer Verminderung des Sturzrisikos. Unerwartete Dysbalance kann besser durch Ausweichbewegungen kompensiert werden. Die beste Evidenz liegt hierfür für Tai-Chi vor. Die Expertenmeinung empfiehlt auch Tanz als Kombination von Balance, Koordination und Ausdauertraining gepaart mit Hirnleistungstraining; hier gibt es jedoch keine prospektiven Studien.

Wohnumfeld. Bei erhöhtem Sturzrisiko ist eine Wohnungsadaptierung und Hilfsmittelberatung notwendig. Letztlich können bis zu 25 % der Stürze auf das Wohnumfeld zurückgeführt werden. Bei bestehendem Sturz- und Frakturrisiko sind protektive Maßnahmen und Notrufsysteme zu empfehlen. Bei Patienten mit diabetischem Fußsyndrom kann adäquates Schuhwerk zur Entlastung und Korrektur der Achsenfehlstellung beitragen und so das Sturzrisiko verringern.