Zielwerte und Leitlinienempfehlungen – Der Kranke gibt das Tempo vor

Die Inzidenz des Diabetes mellitus Typ 2 liegt bei über 70-Jährigen in industrialisierten Ländern bei 20–25 %. Werden systematisch auch Formen des „Prädiabetes“ (gestörte Nüchternblutglukose, pathologische Glukosetoleranz) erfasst, steigt der Prozentsatz der von Glukosetoleranzstörungen betroffenen älteren Personen auf annähernd 50 % (Rathmann et al., Diabetologia 2003; DECODE Study Group, Diabetes Care 2003). Durch ausschließliche Erfassung der Nüchternblutglukose wird bei über 70-Jährigen häufig eine postprandiale Hyperglykämie im Sinne eines manifesten Diabetes mellitus übersehen, da mit zunehmendem Alter eine progrediente Betazelldysfunktion vorliegt (Resnick et al., Diabetes Care 2000). Ein oraler Glukosetoleranztest wird daher zur Abklärung der Stoffwechselsituation empfohlen. Falls dieser technisch nicht möglich ist, kann die Bestimmung eines HbA1c-Wertes bei grenzwertiger Nüchternblutglukose Zusatzinformationen bringen (Hauner et al., Exp Clin Endocrinol Diabetes 2001). Nach den Leitlinien „Standards of Medical Care in Diabetes“ der Amerikanischen Diabetes-Gesellschaft (Diabetes Care 2012) entspricht ein HbA1c von > 6,5 % einem Diabetes mellitus (HbA1c-Umrechnungstabelle). Ein HbA1c zwischen 5,7 % und 6,4 % geht mit einem erhöhtem Diabetesrisiko einher.
Auch Personen mit Erstdiagnose Diabetes im höheren Alter entwickeln makro- und mikrovaskuläre Komplikationen und leiden unter einer höheren Morbidität und Mortalität als gleichaltrige Personen ohne Diabetes (Bethel et al., Arch Intern Med 2007), wobei dieser Effekt erst nach mehrjähriger Diabetesdauer nachweisbar ist (Rosenthal et al., Diabetes Care 1998).

Therapieziele beim älteren Menschen

Blutglukose. Generell gelten für den älteren Diabetiker die gleichen Stoffwechselziele wie für den jüngeren, wenn diese unter entsprechender Lebensstilführung und medikamentöser Therapie sicher und mit adäquater Lebensqualität erreicht werden können (optimal ist ein HbA1c-Wert < 6,5 %, zufriedenstellend ein HbA1c < 7%). Je höher das Lebensalter bei Erstdiagnose des Diabetes ist, desto geringer werden aber die Unterschiede im altersentsprechenden Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko im Vergleich zu Nicht­diabetikern – gezeigt von Tan et al. (Diabetes Care 2004) für über 70-Jährige. Demzufolge können im Einzelfall auch höhere HbA1c-Zielwerte toleriert werden.
In der Geriatrie wurden zur besseren Differenzierung der unterschiedlichen Patientengruppen die Begriffe „go go“, „slow go“ und „no go“ eingeführt (Zeyfang & Braun, MMW Fortschr Med 2009; Tab. 1). Grundlage dieser Einteilung ist nicht eine Ansammlung von Einzeldiagnosen, sondern die Definition des Patienten über funktionelle geriatrische Syndrome (Tab. 2), welche für den betroffenen Menschen im Alltag eine große Beeinträchtigung darstellen können und darüber hinaus ein wichtiger Risikofaktor für verminderte Lebensqualität sind (Siegmund & Schumm-Draeger, Der Diabetologe 2010). Geriatrische Syndrome treten bei älteren Patienten mit Diabetes mellitus signifikant häufiger, in manchen Studien sogar doppelt so häufig auf als bei gleichaltrigen Nichtdiabetikern (Krop et al., Diabetes Care 1998; Gregg et al., Diabetes Care 2000; Bertoni et al., Diabetes Care 2002). Eine optimale Diabetestherapie älterer Patienten sollte einerseits darauf abzielen, die Entwicklung dieser Syndrome zu verhindern, und andererseits bei Vorhandensein dieser Problematik adäquate ganzheitliche Betreuungskonzepte im interdisziplinären Kontext anzubieten.

 

 

 

Gründe für eine Anhebung der individuell festgelegten Stoffwechselziele sind lange Diabetesdauer, hohes Risiko für Hypoglykämien laut Anamnese (da Sturzgefahr und verschlechterte Kognition), Pflegebedürftigkeit und Multimorbidität, fortgeschrittene Demenz oder eine prospektive Lebenserwartung von weniger als 2 Jahren aufgrund einer konsumierenden oder progredienten Grundkrankheit (Tab. 3). Eine chronische Erhöhung der Nüchternglukosewerte über 150 mg/dl bzw. der postprandialen Werte über 300 mg/dl erfordert jedenfalls eine Therapieintensivierung bzw. Therapieumstellung (z. B. Beginn einer Insulintherapie), da mit manifester Glukosurie und entgleister Hyperglykämie Dehydrierung, Infektionen, eine Verschlechterung der Kognition und Kachexie verbunden sind (Abbatecola et al., Neurology 2006).

 

 

Da gerade ältere Patienten nur eingeschränkt oder gar nicht auf Hypoglykämien reagieren und die dabei auftretenden Symptome oft unspezifisch (Schwindel, Schwäche, Verwirrtheit, Stürze) sind (Bremer et al., Diabetes Care 2009), sollten diese unbedingt vermieden werden. Schwere und häufigere Hypoglykämien sind mit einem erhöhten Risiko einer Demenzentwicklung assoziiert (Whitmer et al., JAMA 2009). Umgekehrt führt eine schlechte kognitive Leistung zu einem erhöhten Risiko für schwere Hypoglykämien (Punthakee et al., Diabetes Care 2012; Abb.).

 

 

Blutdruck. Auch hier gelten für den älteren Diabetiker generell die gleichen Blutdruckzielwerte (RR < 130/80 mmHg) wie für den jüngeren, wenn diese unter entsprechender Lebensstilführung und medikamentöser Therapie sicher und mit adäquater Lebensqualität erreicht werden können. Dies trifft insbesondere auf biologisch „junge“, aktive und selbstständige Personen zu.
Prospektive Interventionsstudien liegen zwar für über 70-jährige Personen (in Untergruppen auch mit Diabetes mellitus), nicht aber für über 80-Jährige vor. In den publizierten Studien an Älteren wurden aber keine Zielwerte von < 130/80 mmHg, sondern eher von < 145/90 mmHg angestrebt und auch erreicht (Abbatecola et al., Neurology 2006). Prinzipiell erscheinen im höheren Lebensalter der systolische Blutdruck und der Pulsdruck (Blutdruckamplitude) als entscheidende Risikofaktoren für kardiovaskuläre Komplikationen (Chobanian et al., JAMA 2003). Daher sollte auch bei multimorbiden und pflegebedürftigen Personen der systolische Blutdruck unter 150 mmHg liegen, dazu gibt es aber keine prospektiven, kontrollierten Studien. Die empfohlene Auswahl an Antihypertensiva entspricht jener für jüngere Patienten und orientiert sich an Komorbiditäten, Verträglichkeit, Nebenwirkungen und Kontraindikationen (ESH/ESC Guidelines Committee, J Hypertens 2003; Arauz-Pacheco et al., Diabetes Care 2004).

Fettstoffwechsel. Generell gelten für den älteren Diabetiker die gleichen Lipidzielwerte wie für den jüngeren, wenn diese unter entsprechender Lebensstilführung und medikamentöser Therapie sicher erreicht werden können (LDL-Cholesterin von < 100 mg/dl bzw. < 70 mg/dl). Dies trifft insbesondere auf biologisch „junge“, aktive und selbstständige Personen zu.
In prospektiven Interventionsstudien waren die erzielten relativen Risikoreduktionen vergleichbar mit denen jüngerer Patienten, die absolute Risikoreduktion gemäß dem höheren Hintergrundrisiko war sogar größer (Shepherd et al., Lancet 2002;
HPS Collaborative Group, Lancet 2002). Bei ausgeprägter Multimorbidität, fortgeschrittener Demenz und stark reduzierter Lebenserwartung ist die Indikation zur lipidsenkenden Therapie auf Basis des Behandlungszieles aus Sicht des Patienten individuell und kritisch abzuwägen.

Orale antidiabetische Therapie

Die empfohlene Auswahl an antihyperglykämischen Präparaten entspricht jener für jüngere Patienten und orientiert sich an Komorbiditäten, Verträglichkeit, Nebenwirkungen und Kontraindikationen. Einmal täglich zu verabreichende Präparate sowie sinnvolle Kombinationspräparate erhöhen die Therapieverlässlichkeit.

Bei Sulfonylharnstoffen und Gliniden ist auf das mit den einzelnen Substanzen verbundene Hypoglykämierisiko sowie die notwendige Häufigkeit der Einnahme zu achten. Da die Rate an schweren Hypoglykämien bei fortgeschrittener Niereninsuffizienz zunimmt, sollte der Einsatz vom Sulfonylharnstoffen ab einer glomerulären Filtrationsrate (GFR) von < 30 ml/min generell vermieden werden.

Bei Metformin sind allfällige Kontraindikationen aufgrund reduzierter Organfunktionen zu beachten (Niere, Leber, Herz), ein generelles Alterslimit besteht aber nicht. Metformin eignet sich nicht zur Behandlung untergewichtiger Patienten.

Alpha-Glukosidasehemmer eignen sich gut zur Kontrolle einer postprandialen Hyperglykämie, müssen aber mehrmals täglich eingenommen werden und verursachen manchmal gastrointestinale Nebenwirkungen.

Bezüglich Glitazonen ist in erster Linie auf eine Herzinsuffizienz (NYHA 1–4) sowie auf Ödemneigung als Kontraindikation für den Einsatz beim älteren Patienten zu achten. Weiters kann es zu einer erhöhten Frakturrate bei postmenopausalen Frauen kommen (Loke et al., CMAJ 2009), weshalb eine Gabe bei bereits bekannter Osteoporose nur kritisch erfolgen sollte. Ein erhöhtes Hypoglykämierisiko liegt in der Monotherapie nicht vor.

DPP-4-Hemmer sind für ältere Patienten prinzipiell eine gut verträgliche Medikamentengruppe und verursachen in der Monotherapie kein erhöhtes Hypoglykämierisiko. Bei Sitagliptin, Saxagliptin und Vildagliptin muss ab einer GFR < 50 ml/min die Dosis reduziert werden, da sie zu einem Großteil renal ausgeschieden werden (Schwartz et al., Am J Geriatr Pharmacother 2010; Barzilai et al., Curr Med Res Opin 2011; Stafford et al., J Am Geriatr Soc 2011). Eine Anwendung bei dialysepflichtiger Niereninsuffizienz (GFR < 15 ml/min) wird nicht empfohlen. Linagliptin hingegen wird größtenteils unverstoffwechselt über die Galle und den Darm ausgeschieden (Graefe-Mody et al., Diabetes Obes Metab 2011) und muss in der Dosis nicht an die Leber- und Nierenfunktion angepasst werden.

Insulintherapie

Wegen der angeführten Limitierungen der verfügbaren oralen Antidiabetika sowie eines klinisch relevanten Insulinmangels ist bei betagten Personen mit Diabetes mellitus häufig der Beginn einer Insulintherapie geboten – vor allem dann, wenn eine chronische Glukosurie sowie ungewollter Gewichtsverlust auftreten. Die Insulintherapie sollte individuell auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Patienten und seines sozialen Umfeldes abgestimmt werden. Meist empfiehlt sich ein möglichst einfaches und weitgehend sicheres Therapieregime. Entscheidende Faktoren für eine erfolgreiche und sichere Insulintherapie im Alter sind vor allem alterstaugliche Insulinspritzgeräte (gute Ablesbarkeit durch große Displays; einfache und möglichst fehlerfreie Bedienbarkeit; bei Bedarf vorgefüllte „Fertigspritzen zum Einmalgebrauch“ mit fixer Vordosierungsoption). Ebenfalls erforderlich sind alters- bzw. blindentaugliche Blutzuckerselbstmessgeräte.