Einleitung

Der Nachweis einer endothelialen Komplementaktivierung ist Standard in der morphologischen Abstoßungsdiagnostik. Während eine lokale Antikörperbindung immunmorphologisch kaum darstellbar ist, hat sich die Detektion kapillärer Ablagerungen des Komplementspaltprodukts C4d als robuster Marker für antikörpermediierte Abstoßung gut etabliert (Colvin, J Am Soc Nephrol 2007; 18:1046). C4d-Positivität impliziert ein ungünstiges Transplant-Outcome und eignet sich als Leitmarker für spezifische therapeutische Interventionen. Oberflächlich betrachtet könnte man dies nun so interpretieren, dass Antikörper nach Bindung an endothelial exprimierte Alloantigene das klassische Komplementsystem effizient aktivieren und auf diesem Weg eine klinisch relevante Gewebsschädigung verursachen.
Tatsächlich scheint die Situation wesentlich komplexer zu sein. Für C4d selbst, welches als Spaltprodukt der Komplementkomponente C4 gebildet und kovalent am Ort einer abgelaufenen klassischen Komplementaktivierung gebunden bleibt, ist bislang keine eigenständige funktionelle Rolle publiziert. Unter bestimmten Bedingungen, z. B. nach blutgruppeninkompatibler Transplantation, kann C4d in Transplantaten in großer Ablagerungsdichte nachweisbar sein, ohne dass es zu Abstoßung bzw. Organdysfunktion kommt. Es gibt sogar Hinweise, dass C4d-positive Organe vor chronischen Schäden geschützt sein könnten (Haas et al., J Am Soc Nephrol 2009; 20:197). Bedeutet dies, dass frühe Komplementaktivierungsschritte – wenn auch als Marker für schädigende Antikörperbindung besonders geeignet – zumindest unter bestimmten Bedingungen selbst keine pathogene Effektorwirkung, sondern eher regulative Effekte entfalten?
Diese Frage ist aufgrund der widersprüchlichen klinischen und experimentellen Daten nicht leicht zu beantworten. In einem Mausmodell konnte beispielsweise gezeigt werden, dass Defizienz der ersten klassischen Komplementkomponente C1 nicht, wie erwartet, Abstoßung von Herztransplantaten verhindert, sondern paradoxerweise eine antikörpermediierte Schädigung sogar verstärkt (Csencsits et al., Am J Transplant 2008; 8:1622). In einem anderen Tiermodell hatte C4-Defizienz auf Spender oder Empfängerseite keinerlei nennenswerte Effekte auf das Auftreten von Organabstoßungen (Lin et al., Am J Pathol 2006; 168:1241). In diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache zu erwähnen, dass genetische Defizienzen früher Faktoren wie C1, C2 oder C4 eng mit dem Auftreten von Autoimmunerkrankungen wie systemischem Lupus erythematodes assoziiert sind, ein Hinweis für eine eher regulative immunologische Funktion dieser Komponenten (Yang et al., Am J Hum Genet 2007; 80:1037). Andererseits zeigen zahlreiche experimentelle und auch klinische Studien, dass Komplement­inhibition wiederum eine effektive Strategie zur Behandlung und Prävention antikörpermediierter Abstoßungsprozesse darstellen könnte. Für den Anti-C5-Antikörper Eculizumab konnte hier tatsächlich beträchtliche Effektivität gezeigt werden (Stegall et al., Am J Transplant 2011; 11:2405). Allerdings bleibt festzuhalten, dass Eculizumab die späte Aktivierung zum terminalen Komplex blockiert, nicht aber die oben besprochenen frühen Aktivierungsschritte auf Ebene von C1 und C4, was letztlich beträchtliche funktionelle Unterschiede bedingen könnte.

Analyse des genetischen Hintergrunds

Ein Weg, Hinweise für die tatsächliche klinische Rolle von frühen Komplementkomponenten im Humansystem zu finden, könnte eine eingehende Analyse des genetischen Hintergrunds darstellen. Diesbezüglich ist die C4-Komplementkomponente ein interessantes Target, denn hier besteht eine außergewöhnliche interindividuelle genetische Variabilität (Saxena et al., Mol Immunol 2009; 46:1289). Neben einer Vielzahl möglicher Polymorphismen findet sich hier ein beträchtlicher Gendosis-Polymorphismus, der darin besteht, dass die Anzahl von C4-Genen im Genom interindividuell stark variieren kann. Individuelle Gendosen wurden dabei direkt mit gemessenen C4-Proteinkonzentrationen und damit möglicherweise mit der Effizienz des klassischen Komplementwegs assoziiert (Yang et al., J Immunol 2003; 171:2734).

Zahl der C4-Genkopien nicht mit Transplant-Ergebnissen assoziiert

Im Rahmen der hier besprochenen Studie haben wir nun in einem großen Kollektiv den C4-Gendosis-Polymorphismus sowohl auf Empfänger- als auch Spenderebene analysiert, mit der ursprünglichen Überlegung, dass die Zahl der C4-Genkopien mit einem Abstoßungs- und einem Transplantatverlustrisiko assoziiert ist. Ein für uns überraschendes Ergebnis war, dass die C4-Gendosis in keiner Weise mit den Transplant-Ergebnissen assoziiert war. Wenn auch komplette C4-Defizienzen in unserem Kollektiv nicht vertreten waren, entsprechen diese Ergebnisse doch in einem gewissen Ausmaß den oben angeführten experimentellen Studien, die ja keinen Zusammenhang zwischen C4-Gendefizienz und Abstoßung zeigen konnten.

Schlussfolgerungen

Wie sind diese Ergebnisse zu interpretieren? Zumindest sind sie ein weiteres Mosaiksteinchen im Kontext einer faszinierenden rezenten Literatur, die die vermutete tragende Effektorrolle früher Komplementaktivierungsschritte im Kontext humoraler Abstoßung relativiert. Im Kontext unserer Studie ist aber zu diskutieren, ob die C4-Gendosis tatsächlich ein repräsentatives Maß für die intrinsische Stärke des klassischen Komplementwegs darstellen kann. Es ist bei der kaskadenartigen Aktivierung des Komplementsystems nicht auszuschließen, dass bereits niedrige C4-Konzentrationen, z. B. bei Patienten/Spendern mit nur einem oder zwei singulären Genen, ausreichen könnten, den klassischen Aktivierungspfad in ausreichendem Maße zu aktivieren. Zu erwähnen bleibt hier aber, dass bei einer anderen Pathogenese nennenswerte klinische Assoziationen für einen C4-Gen-Polymorphismus bereits gezeigt werden konnten, nämlich beim SLE, wo eine klare Assoziation einer niedrigen C4-Gendosis mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko gezeigt werden konnte (Yang et al., Am J Hum Genet 2007; 80:1037).