Rasche Verfügbarkeit neuer Substanzen

Spectrum Onkologie: Was steckt hinter der ESMO-Initiative?
Univ.-Prof. Dr. Christoph Zielinski: Die Idee dahinter ist, dass Substanzen in Europa durch die Existenz der EMA in allen Ländern zugelassen werden, dass aber in verschiedenen Ländern – bedingt durch unterschiedlich lange Zeiten für Preis- und Rückerstattungsverhandlungen – unterschiedlich lange Zeitspannen vergehen, bis vorhandene Medikamente auch tatsächlich genutzt werden können; d. h., die Initiative zielt darauf ab, nach der Registrierung in den einzelnen EU-Ländern eine gleich schnelle Verfügbarkeit zu gewährleisten. Wenn man sich eine Gemeinschaft von Staaten vorstellt, dann müssen auch die Zugänge zur Gesundheit ausgeglichen werden, wovon wir weit entfernt sind, weil wir ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten haben. Hierbei sind, nur beispielhaft, Österreich, Frankreich, Deutschland, Holland oder Belgien zu unterscheiden von Großbritannien, das durch NICE wieder anders gesteuert ist, und es gibt natürlich auch Länder mit limitierten finanziellen Ressourcen. Ich denke, es ist wichtig, einen nächsten Schritt zu setzen und nicht nur zu sagen, wir müssen eine Zollunion sein. Wir müssen auch eine Sozial- und Gesundheitsunion werden, sonst kommt es zu Ungleichheiten oder einer Verstärkung von Ungleichheiten. Der Vorstoß bezieht sich nicht nur auf innovative Medikamente und den raschen Fortschritt, sondern auch auf Generika, deren Frist deutlich kürzer gesetzt ist, was über einen stärkeren Wettbewerb auch Einsparungspotenzial nach sich ziehen kann.
In Deutschland wird diskutiert, dass die rasche Verfügbarkeit innovativer Substanzen zunächst auf Zentren beschränkt werden soll, die erste Evaluierungen vornehmen.

Im Prinzip muss überall die Regel gelten: Je mehr man etwas übt, desto besser kann man es. Das gilt für Klavierspieler im Umgang mit ihrem Instrument genauso wie für Ärzte im Umgang mit Medikamenten. Wir wissen an unserem Haus, dass die Inzidenz an febrilen Neutrope­nien deutlich zurückgegangen ist und dass Komplikationen nach Chemotherapien an Zentren geringer sind. In Richtung Mortalitätsanalyse wissen wir das noch besser von chirurgischen Interventionen: In erfahrenen Händen sind Morbidität und Mortalität geringer. Es ist schon so, dass innovative Substanzen einerseits vielleicht im generellen Einsatz studiert werden müssen, um dann Outcome-Analysen durchzuführen. Andererseits haben viele der zielgerichteten Substanzen nicht gezielte Nebenwirkungen. Off-Target-Effekte, die wir bis dato nicht gekannt haben. Hier liegt die Empfehlung nahe, diese Substanzen bevorzugt in Zentren einzusetzen, die tatsächlich über eine exquisite interdisziplinäre Erfahrung verfügen. Zum einen deswegen, weil es nicht mehr einzelne Personen gibt, die alles hervorragend können. Das wäre in der inneren Medizin nicht möglich, genauso wenig in der Onkologie. Daher sollte man doch der Interdisziplinarität das Wort sprechen, indem man sagt: Erst durch Bündelung von Expertisen kommt man zu entsprechenden Schlussfolgerungen. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist Ipilimumab, eine Substanz, die aufgrund ihrer Wirkung auch Autoimmunphänomene auslösen kann, die zum Teil beträchtlich sein können, wie etwa Hypophysitis. Tritt so ein Fall ein, ist es doch vorteilhaft, einen kundigen Endokrinologen nebenan zu wissen.

Menschen werden heute älter, als Folge werden in Zukunft mehr Tumorerkrankungen prognostiziert und mehr Kosten, die schon jetzt als sehr hoch empfunden werden.

Die Kostendiskussion sollte nicht auf dem Rücken der Onkologie ausgetragen werden. Es gibt aus meiner Sicht die akademische Verpflichtung, darauf hinzuweisen, wenn eine Substanz oder Intervention Vorteile hat, darüber hinausgehende Entscheidungen sind gesellschaftspolitischer Natur. Kommt die Gesellschaft zum Entschluss, dass neue Substanzen zugelassen werden, muss sie auch Entscheidungen zur Kostenrückerstattung treffen. Auf Österreich bezogen ist das Gesundheitssystem sicher gut, wenngleich aus meiner Sicht etwas zu wenig visionär. Meine Erfahrung ist die, dass wenn im Gesundheitssystem Entwicklungen vorhergesagt werden, diese dann auch stattfinden. Es sei denn, wenn man an die Bevölkerungsentwicklung denkt, dass eine unvorhersehbare Katastrophe eintritt, wie ein Krieg mit einer Dezimierung von Menschen, vor allem junger Menschen. Wenn der demografische Trend aber anhält, dann ist in Zukunft mit mehr älteren Menschen und auch mit mehr Tumorerkrankungen zu rechnen. Hier hat das Gesundheitssystem etwas wenig Phantasie. Vielleicht ein anschauliches Beispiel: Man sieht am Flughafen Wien-Schwechat beim Ankommen, wie klein dieser Flughafen ist, obwohl man immer gewusst hat, dass das Passagieraufkommen steigen wird. Wenn ein Flughafen bei steigendem Passagieraufkommen zu klein ist, müssen daraus Konsequenzen gezogen werden.

In einem Lancet-Oncology-Statement (Sullivan, 2011) wird der Sorge einer Defensivhaltung Ausdruck verliehen, was den Einsatz neuer Substanzen oder Technologien betrifft. Es müssten jetzt bereits Maßnahmen ergriffen werden, um eine onkologische Versorgung auch in Zukunft sicherzustellen.

Es ist meine Überzeugung, dass wir als Wissenschafter nicht dazu da sind, Dinge zu hemmen, wenn der eine oder andere Aspekt für die Gesellschaft ökonomisch nicht akzeptabel ist. Allein die Veränderung eines einzigen Schrittes, zum Beispiel des Produktionsprozesses, kann Medikamente auch günstiger machen; d. h., es ist nicht gesagt, dass alles immer teurer werden muss, es ist aber mit den aktuellen Methoden und der derzeitigen Kalkulation eine kostenintensive Situation gegeben, weil nicht allein das Medikament, sondern auch die zugrunde liegende Forschung einbezogen wird. Tatsächlich ist die Medikamentenentwicklung in den letzten Jahren erheblich aufwändiger geworden, vor allem wegen einer Vielzahl regulatorischer Maßnahmen, die von der Gesellschaft aber auch verlangt werden, weil der Konsument dadurch geschützt ist. In Wirklichkeit zahlt die Gesellschaft die Kosten für das, was sie einmal verlangt hat, und zwar in Form unterschiedlicher Geldgeber. Man kann in dem Zusammenhang auf Entwicklungen hinweisen, es ist aber nicht die erste Aufgabe des Wissenschafters, an die Kosten zu denken, sondern daran, wie man Forschung therapeutisch nutzbringend verwendet. Sobald ein Medikament eingesetzt werden kann und eine Preisstruktur geschaffen ist, schlägt sozusagen die Stunde derer, die sagen: Wollen wir diese Innovation oder wir wollen sie nicht? Hier bin ich der festen Überzeugung, dass eine solche Entscheidung nicht allein von Ökonomen getroffen werden kann, sondern es müssen auch Patienten einbezogen werden. Andernfalls entscheidet eine Übermacht – nämlich die der biologischen Überlegenheit des informierten Gesunden – über eine vermeintliche biologische Unterlegenheit des Kranken: „Das gebe ich dir, das du haben könntest, um dein Leben gegebenenfalls zu verlängern.“ Eine grauenhafte Vorstellung, die aber stattfindet, und nichts anderes als ein darwinistisches Konzept der Überlegenheit der Ökonomie, die von Gesunden verwendet wird gegen Leute, die krank sind.

„Entscheidungen über Innovationen können nicht allein von Ökonomen getroffen werden, sondern es müssen auch Patienten einbezogen werden. Andernfalls entscheidet eine Übermacht – nämlich die der biologischen Überlegenheit des informierten Gesunden – über eine vermeintliche biologische Unter­legenheit des Kranken. Das wäre nichts anderes als ein darwinistisches Konzept der Überlegenheit der Ökonomie, die von Gesunden verwendet wird gegen Menschen, die krank sind.“