Portrait: Mahner für eine menschengerechte Psychiatrie

Die progressive Muskeldystrophie, an der sein Vater litt, habe seine Berufswahl geprägt, sagt Univ.-Prof. Dr. Hartmann Hinterhuber. Als ihm nach seinem Medizinstudium in Padua und Innsbruck 1968 eine Ausbildungsstelle an der Innsbrucker Universitätsklinik angeboten wurde, entschied sich der gebürtige Brunecker für die Neurologie. “Den Neurowissenschaften gehörte meine erste Liebe. Damals herrschte infolge des Siegeszuges der neuen psychopharmakologischen Therapien eine überwältigende Aufbruchsstimmung im Doppelfach Neurologie und Psychiatrie. Dem stand in der täglichen Praxis die deprimierende Realität einer desolaten Versorgung psychisch Kranker gegenüber, die sich auf wenige Großkrankenhäuser konzentrierte.”

Sozialpsychiatrische Aufbruchsstimmung: Soziale Verantwortung gepaart mit wissenschaftlichem Interesse habe ihn immer näher an die Psychiatrie herangeführt. Die Facharztausbildung absolvierte Hinterhuber an der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik Bologna. “Die Ausrichtung der Bologneser Klinik war sehr konservativ, aber die Facharztkandidaten vereinte eine sozialpsychiatrische Reformbegeisterung. Meine Besuche in den psychiatrischen Krankenhäusern in Görz und Cividale bestätigten mir die dringende Notwendigkeit einer Psychiatriereform, die Radikalität sowie der ideologische Reduktionismus von Basaglia und seinen Anhängern erschien mir – und vielen – aber patientenfeindlich und ethisch bedenklich.”
In Südtirol baute Hinterhuber zunächst differenzierte Einrichtungen einer gemeindenahen sozialpsychiatrischen Versorgung auf, die wissenschaftlich begleitet wurden und schließlich auch auf Nordtirol übertragen werden konnten.
In der Folge habilitierte er sich an der Universität Innsbruck. 1983 wurde er zum Vorstand und 1985 zum Ordinarius der Universitätsklinik für Psychiatrie bestellt. Seit über 25 Jahren ist er Präsident der “Gesellschaft für psychische Gesundheit – pro mente Tirol”, die er 1978 mitbegründet hatte und die sich mit 300 Mitarbeitern zu einer großen sozialpsychiatrischen Einrichtung entwickelte. Der gemeinsam mit Univ.-Prof. Dr. Ullrich Meise erstellte “Psychiatrieplan Tirol” war der erste eines österreichischen Bundeslandes und hat die nachfolgenden wesentlich beeinflusst. Hinterhuber, der als “Vater einer modernen Psychiatrie in Tirol” mit einem Ehrenzeichen des Landes Tirol gewürdigt wurde, gelang es auch, erstmals in Kontinentaleuropa die Substitutionsbehandlung einzuführen sowie Laboratorien für “experimentelle Psychiatrie” und für “experimentelle Alzheimerforschung” aufzubauen.

Ethische Grundsätze: Ein Schwerpunkt in der breitgefächerten wissenschaftlichen Tätigkeit des Psychiaters, die über 500 Publikationen umfasst, ist die sozialpsychiatrische Forschung. Seine frühen Arbeiten “Zur Katamnese der Schizophrenien” sowie die “Innsbrucker Longitudinalstudie” zählen heute noch zu den wenigen großen Untersuchungen zum Verlauf und Outcome schizophrener Störungen. Ein besonderes Anliegen ist ihm die Hinführung zu differenzierter psychopathologischer Betrachtungsweise sowie vor allem auch zu ethischen Fragestellungen. Durch die rasante Entwicklung in Medizin und Psychiatrie “sind Handlungsmöglichkeiten freigesetzt worden, die nur dann human bleiben können, wenn sie durch ethische Grundsätze geleitet werden.” Das sei von fundamentaler Bedeutung für die berufliche Identität künftiger Ärzte.
Dieses Engagement für eine menschengerechte Psychiatrie zeigt sich auch im Umgang mit der Vergangenheit: Hinterhuber war maßgeblich daran beteiligt, dass den psychisch kranken und behinderten Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen in Tirol 1997 ein Denk- und Mahnmal gesetzt wurde. Zwei Jahre zuvor war sein Buch “Ermordet und Vergessen” erschienen. “Das Buch sollte ein spätes Zeichen der Solidarität mit den Opfern sein, aber gleichzeitig auch eine Warnung vor dem aufdämmernden Ungeist des Chauvinismus, Rassismus und Fremdenhasses. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Psychiater auch in unserer Zeit seinen Beruf nur dann reflektiert ausüben kann, wenn er sich mit dem dunkelsten Kapitel seines Faches auseinandergesetzt hat. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit gewinnt aber erst dann einen tieferen Sinn, wenn Fehlentwicklungen geortet und die Weichen für eine bessere Zukunft gestellt werden, die ein Mehr an Menschlichkeit beinhalten.”
Für ihn habe die Psychiatrie im Laufe der Jahre nichts von ihrer Faszination eingebüßt, eher im Gegenteil. “Keine andere medizinische Disziplin verfügt über einen so weiten Horizont und keine wird der Vielschichtigkeit des menschlichen Lebens in Gesundheit und Krankheit so gerecht. Darin liegen – eng verbunden – die schönen und beglückenden wie auch die schwierigen Seiten unserer tagtäglichen Praxis.”