Diagnostik und Behandlung psychotischer Störungen im transkulturellen Kontext

Diagnostik und Therapie von Psychosen im transkulturellen Kontext bietet besondere Herausforderungen, denen man sich als Psychiater, Psychologe oder Psychotherapeut im Zeitalter der Globalisierung und der weltumspannenden Wanderungsbewegungen stellen muss. In der Diagnostik psychotischer Erkrankungen bei Migranten erweitert sich das Spektrum möglicher Fehldiagnosen beträchtlich. Mangelnde kulturelle Kompetenz und Sprachbarrieren auf Seiten der Untersucher führen etwa zu einer erhöhten Rate diagnostizierter schizophrener Erkrankungen bei Migranten in psychiatrischen Krankenhauspopulationen.1-4
In nichteuropäischen Kulturen finden sich psychotische Symptome häufig auch bei akuten Stressreaktionen, Belas – tungsreaktionen, Angststörungen oder depressiven Erkrankungen.5-8 Im europäisch-amerikanischen Kulturraum hingegen werden psychotische Symptome eher mit Schizophrenie assoziiert. Die häufig schwierige Differenzierung zwischen Wahn und Glaube sowie zwischen Halluzinationen und Trance kann im interkulturellen Kontext ebenfalls zu erheblichen Fehlbeurteilungen führen.5, 9, 10 Die Diagnostik von Menschen fremdkultureller Herkunft bietet also Fehlermöglichkeiten und Fallstricke, die weit über die gewohnten Befundungs- und Bewertungsunsicherheiten hinausreichen. Kulturspezifische Ausdrucksformen, Krankheitskonzepte und Symbolsysteme (kulturelle Muster) können mit allen psychischen Erkrankungen und Störungsbildern assoziiert sein, wirken für den damit nicht vertrauten Untersucher häufig bizarr und geben damit Anlass zu Fehldiagnosen (Faktor 1). Darüber hinaus gibt es in traditionellen Kulturen Störungsbilder, die bei uns eher selten vorkommen oder anders gestaltet sind (Faktor 2). Für die folgenden Erläuterungen dienen schizophrene Erkrankungen als Kontrastfolie, vor deren Hintergrund die übrigen (pseudo-) psychotischen Erkrankungen abgegrenzt werden sollen.

Kulturelle Muster

Gesellschaften und Kulturen unterscheiden sich häufig erheblich in der Konzeptionalisierung, im Erscheinungsbild und in der Behandlung psychischer und somatischer Krankheiten.11, 12 Kulturell geprägte kognitive Muster können alle Arten psychischer Krankheiten und Störungsbilder überlagern und zu Fehldiagnosen führen. An dieser Stelle sollen uns zwei Bereiche interessieren:
Idioms of Distress: Lokaltypische Symp – tommuster wurden aufgrund ihrer kommunikativen Funktion von Nichter als “Idioms of Distress” bezeichnet.13 Das wohl bekannteste Symptommuster ist die sogenannte Somatisierung. Beklagte körperliche Symptome sind nicht in jedem Fall Indikatoren “tatsächlicher” oder “somatisierter” Krankheiten, sondern sind immer auch als Botschaften zu verstehen.
Verschiedene Kulturen wählen aus der Bandbreite möglicher Symptome mit – unter Schlüsselbeschwerden aus, die in typischer Weise vorgebracht und mit spezifischen Bedeutungen verknüpft werden. Eine Frau aus Ghana mit einer Belastungsstörung und Panikattacken berichtete etwa über ein Feuer im Bauch und Schlangen, die sich durch ihre Gedärme fräßen, Symptome also, die von vielen westlichen Behandlern als bizarrer Wahn, ein Leitsymptom der Schizophrenie im DSM-IV, klassifiziert würden.
Krankheitskonzepte: Unter Krankheitskonzepten versteht man Vorstellungen über die Ursachen einer Krankheit. Diese können mitunter erheblich von den in der westlichen Medizin gebräuchlichen biopsychosozialen Modellannahmen abweichen. 14
In einer kulturvergleichenden Untersuchung über die Krankheitskonzepte von an Schizophrenie bzw. Zwangsstörungen leidenden österreichischen und pakistanischen Patienten konnten wir zeigen, dass die jeweiligen Krankheitskonzepte mehr von den Leitkulturen als von den spezifischen Krankheitserfahrungen abhängig sind.15 Ein bekanntes Beispiel für ein Krankheitskonzept, das zu Verwechslungen Anlass geben kann, ist die im westafrikanischen Kulturraum weit verbreitete Vorstellung von Hexerei als Krankheitsursache, ein anderes die Vorstellung vom bösen Blick, die nahezu in allen traditionellen Kulturen vorkommt. 16, 17
Was die richtige Diagnose oft schwierig macht, ist der Umstand, dass selbstverständlich auch Patienten aus traditionellen Kulturen unter einer Schizophrenie mit Verhexungswahn leiden können. Denk- und Affektstörungen sind bei Personen aus fremden Kulturen, die oft nicht ausreichend über deutsche oder englische Sprachkenntnisse verfügen, auch mit der Unterstützung eines Übersetzers oft kaum beurteilbar. Man bleibt daher zumeist auf die Analyse und Bewertung der Eigenberichte der Patienten angewiesen. Wahndefinitionen, die sich nicht auf das dritte Jaspers‘sche Wahnkriterium, die “Unmöglichkeit des Inhalts”, beziehen, ist daher in der transkulturellen Diagnostik der Vorzug zu geben.18

Prävalenz und Gestaltung psychotischer oder psychoseähnlicher Erkrankungen

Außergewöhnliche Bewusstseinszustände: Außergewöhnliche (ABZ) oder auch veränderte Bewusstseinszustände (VBZ) finden sich nahezu in allen Gesellschaften (Tab. 1).
ABZ können durch psychogene Mechanismen wie Reizentzug, Reizüberflutung und Suggestion, aber auch durch Halluzinogene 1. und 2. Ordnung ausgelöst werden.20 Das gemeinsame Kriterium unterschiedlicher ABZ ist die Empfindung einer klaren qualitativen Veränderung des mentalen Funktionierens. Unterschieden wird für gewöhnlich zwischen Trance und Besessenheitstrance. Während die Besessenheitstrance durch das Auftreten von einer oder mehreren abgegrenzten Identitäten charakterisiert ist, geht bei Trance die Veränderung oder der Verlust der eigenen Identität nicht mit dem Auftreten anderer Entitäten einher. ABZ werden rituell, divinatorisch und zu heilerischen Zwecken genutzt, können aber, wie etwa im Woodoo, als Schadenszauber eingesetzt werden.21 ABZ sind nicht notwendigerweise pathologisch, sondern werden erst durch die Art ihrer Auslösung, durch bedrohliche Inhalte oder durch kulturell vorgegebene Interpretationen zu krankheitswertigen Störungen. Im Allgemeinen sind sie von kurzer Dauer, können allerdings gelegentlich in Depersonalisationszustände chronifizieren.22 Damit können sie Anlass zur Diagnose einer dissoziativen uIdentitätsstörung, aber auch von Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis geben.

Dissoziative Pseudopsychosen: Psychogene Störungsbilder wie die dissoziativen (hysterischen) Pseudopsychosen können leicht mit schizophrenen Erkrankungen verwechselt werden.23 Sie sind in traditionellen Kulturen häufig anzutreffen und schließen verschiedene kulturspezifische Syndrome wie Latah oder das Amok- Syndrom mit ein.5 Unabhängig von der kulturgebundenen Ausformung finden sich gewisse grundlegende Strukturmerkmale, die von Sigmund beschrieben wurden.24
Die Imagination ist bei diesen Patienten Trägerin von libidinösen oder aggressiven Wünschen und Befürchtungen. Deren Kraft verdankt die dissoziative Pseudopsychose ihre Expressivität und Intensität sowie ihren hohen Grad an Intentionalität. Hysterische Imaginationen sind gleichermaßen sowohl auf eine rudimentäre Erfüllung als auch auf Abwehr angelegt. Ihre Struktur ist analogisch bzw. allegorisch und verlangt nach Entschlüsselung. Das Festhalten am magischen Wunschdenken, an der Gleich-Gültigkeit von Wirklichkeit und Imagination verstärkt deren Als-ob-Charakter. Während man bei schizophrenen Erkrankungen zumeist auch echte Halluzinationen findet, handelt es sich bei den Wahrnehmungsveränderungen im Rahmen von Pseudopsychosen um Vorstellungskonkretisierungen oder illusionäre Verkennungen.
Transiente Psychosen: Transiente Psychosen (Synonyme: Bouffées délirantes, oneiroide Emotionspsychosen, Zykloide Psychosen) sind eine heterogene, von den Schizophrenien und den affektiven Erkrankungen unterscheidbare Gruppe psychotischer Erkrankungen.25 Im ICD-10 entspricht der transiente Psychose die akute vorübergehende psychotische Störung (ICD-10: F23), im DSM-IV die kurze psychotische Störung (DSM-IV: 298.9). Bereits in den 1950er-Jahren wurde auf die Häufigkeit dieser Psychosen in der dritten Welt hingewiesen, eine Ansicht, die in den folgenden Jahrzehnten mehrfach bestätigt werden konnte.26 Transiente Psychosen dauern zumeist nur Stunden bis einige Wochen und zeichnen sich durch komplette Remissionen aus. Häufig finden sich auslösende Faktoren wie akuter psychischer Stress, Schwangerschaft und Geburt oder Drogenmissbrauch. Die Stimmungslage ist zumeist ängstlich, mitunter auch ekstatisch. Wenn die Angst im Vordergrund steht, zeichnen sich die Patienten durch Misstrauen, Eigenbeziehungen, hypochondrische Ideen, Minderwertigkeitsideen, optische Illusionen und Halluzinationen, Geruchshalluzinationen, körperliche Missempfindungen und Beeinflussungserlebnisse aus.
Dominieren Denkstörungen, ist häufig ein Wechsel zwischen ratlosem Stupor und verworrener Erregung mit oft bizarren Wahneinfällen, Personenverkennungen, Beziehungsideen, akustischen Halluzinationen oder Bedeutungsideen zu beobachten. Dominieren Störungen der Psychomotorik, findet sich im Zustand starker Erregung eine quantitative Steigerung der Ausdrucks- oder Reaktivbewegungen. In akinetischen Phasen kommt es regelhaft zur Aufhebung der Reaktivbewegungen und zu einer Erstarrung der Ausdrucksmotorik, die Haltung ist steif, das Gesicht starr. Diese akuten Psychosen imponieren durch eine bunte, floride Symptomatik, was Anlass zu Verwechslungen mit akuten psychotischen Episoden im Rahmen schizophrener Erkrankungen sein kann.
Affektive Erkrankungen: Auch Depressionen können in traditionellen Kulturen ungewöhnliche Ausgestaltungen annehmen und damit differentialdiagnostische Probleme aufwerfen.5, 27 In Afrika kann der traurige Affekt gegenüber dysphorischer Stimmung zurücktreten, im indonesischen Kulturraum wirkt der Affekt oft eher flach als gehemmt oder verzweifelt. Stuporen, aber auch Erregungszustände entbehren häufig eines ausgeprägten Affektes. Schuldgefühle und Selbstvorwürfe sind selten, bizarr anmutende hypochondrische Ideen dagegen häufig. In Schwarzafrika treten anstelle von Schuldgefühlen häufig Beeinträchtigungs- oder Verfolgungswahn auf. Auch visuelle Halluzinationen sind nicht selten.
Schizophrene Erkrankungen: Neuere Metaanalysen zeigen, dass schizophrene Erkrankungen in vormodernen Staaten seltener als in Schwellenländern und modernen Industriestaaten auftreten.28-30 Im Gegensatz dazu liegen die Inzidenz und Prävalenz bei Migranten deutlich über den Werten sowohl der Aufnahmeals auch der Herkunftsgesellschaft. Dies trifft für Migranten der ersten wie auch der zweiten Generation zu.31
Migration ist damit der stärkste psychosoziale Prädiktor für den Ausbruch einer schizophrenen Erkrankung. Wirtschaftsmigranten sind deutlich häufiger betroffen als Flüchtlinge, über die Ursachen kann nur spekuliert werden.32 Auch in der Verteilung der schizophrenen Subtypen finden sich regionale Unterschiede.5, 33, 34 Der paranoide Typus ist am häufigsten in Europa und Nordamerika, hebephrene Verlaufsformen in Ostasien, der katatone Typus und akute schizoaffektive Erkrankungen sind am häufigsten in Schwarzafrika anzutreffen. Allerdings gibt es eine ubiquitäre schizophrenietypische Kernsymptomatik (Denkstörungen, Affektverflachung und sozialer Rückzug). In allen untersuchten Kulturen sind Verfolgungs- und Größenwahn die häufigsten Wahnthemen und akustische Halluzinationen die am öftesten zu beobachtenden Wahrnehmungsveränderungen. 18, 35 Daneben existieren aber auch eindrucksvolle regionale Variationen: Religiöser Wahn und optische Halluzinationen etwa kommen in Schwarzafrika deutlich häufiger vor als in Europa.
Psychosen bei hirnorganischen Erkrankungen: Darunter werden psychische Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie subsumiert, die zu einer Hirnfunktionsstörung und psychischen Symptomen führen. Manche Formen, wie Psychosen durch Malariainfektionen, sind vorwiegend auf tropische Zonen beschränkt.36 Das von der weiblichen Anopheles- Mücke auf den Menschen übertragene Plasmodium falciparum ist in den Tropen die häufigste und wichtigste Ursache einer akuten Enzephalopathie. Zumeist sind die Patienten erregt, ruhelos und redselig. Neben neurologischen Symptomen kommen psychiatrische Bilder wie asthenisch-hypochondrische oder produktiv-psychotische Syndrome vor. Im meningoenzephalitischem Stadium der Schlafkrankheit können manchmal ebenfalls psychiatrische Probleme im Vordergrund stehen, sodass primär funktionelle Psychosen vermutet werden. Im weiteren Verlauf dominieren aber Benommenheit und Schläfrigkeit das klinische Bild. Die Trypanosoma-rhodesiense-Infektion verläuft rascher als die T.-gambiense-Infektion und führt häufiger zum Delir. Bei einer Loiasis treten Enzephalopathien vorwiegend nach antiparasitärer Therapie bei hoher Mikrofilariendichte im Blut auf. Es kommt zu Agitiertheit, euphorischer oder gedrückter Stimmung, Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Darüber hinaus kann eine Vielzahl tropischer Viren zu Enzephalitiden und Meningitiden führen. Auch hier können Verhaltensstörungen, kognitive und mnestische Beeinträchtigungen oder paranoid-halluzinatorische Syndrome auftreten.36

Behandlung psychotischer Erkrank ungen im transkulturellen Kontext

In allen Regionen der Welt basiert die Behandlung psychisch Kranker auf medikamentösen und psychotherapeutischen Strategien. Bereits in Wildbeuterkulturen wurden aus Pflanzen gewonnene Alkaloide als Medizin eingesetzt. In ekstatischen Ritualen, in die für gewöhnlich die Familie eingebunden wird, erfolgt ein Ausagieren von Konflikten und Spannungen. Heute existieren in den meisten Entwicklungsländern traditionelle Medizinsysteme und moderne westlich orientierte Behandlungsformen nebeneinander. Bestimmte Wirkprinzipien sind auf der ganzen Welt identisch, es zeigen sich jedoch biologische und kulturelle Unterschiede, die auch in der Behandlung von Migranten, die an einer Psychose erkrankt sind, zu beachten sind.
Psychopharmakologie: Die institutionelle psychopaharmakololigsche Behandlung von Pateinten in außereuropäischen Ländern entspricht inzwischen weitgehend den therapeutischen Standards der Spitäler westlicher Industierstaaten.
Psychotische Zustandsbilder und Manien werden mit typischen (Haloperidol) oder atypischen Antipsychotika (Risperidon, Olanzapin), depressive Zustandsbilder, Angsterkrankungen, Zwangsstörungen und Posttraumatische Belastungsstörungen mit Antidepressiva der 2. und 3. Generation (Fluoxetin, Sertralin oder Venlafaxin) behandelt. Zur Prophylaxe von affektiven Episoden bei bipolaren Erkrankungen kommen Stimmungsstabilisatoren (Lithium, Carbamazepin oder Valproat) zur Anwendung. Akute Angst- und Erregungszustände erfordern den vorübergehenden Einsatz von Tranquilizern (z. B. Lorazepam oder Diazepam). Zu beachten ist allerdings, dass die Wirkung der Medikamente sowohl durch kulturelle als auch pharmakogenetische Faktoren beeinflusst wird. Kulturell bedingte Krankheitskonzepte und Ernährungsgewohnheiten spielen eine gewichtige Rolle. Ein wichtiger biologischer Faktor ist die Pharmakokinetik.37 Populations- und epigenetische Varianten des Metabolismus sind häufige Ursachen für die ethnischen Unterschiede der Medikamentenresponse. Vor allem von den Cytochrom- P450-Enzymen (und innerhalb dieser Gruppe dem CYP2D6) existieren zahlreiche Polymorphismen, die in verschiedenen Populationen in unterschiedlicher Häufigkeit vorliegen (Tab. 2).


Betroffen davon sind Antipsychotika wie Aripiprazol, Clozapin, Flupentixol, Haloperidol, Levomepromazin, Olanzapin, Perazin, Perphenazin, Pimozid, Risperidon, Thioridazin, und Zuclopenthixol, nahezu alle trizyklischen Antidepressiva (Amitryptilin, Clomipramin, Desipramin, Doxepin, Imipramin) und selektiven Serotonin Wiederaufnahmehemmer (Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin), aber auch die neue Generation von Antidepressiva wie Mirtazepin, Venlafaxin und Nefazodon.37 Auch andere Enzymsysteme, wie etwa COMT, liegen in polymorpher Form vor. Die daraus resultierenden Abbauraten erfordern eine Dosisanpassung vor allem von Antidepressiva und Antipsychotika.
Psychotherapie: Wenngleich man sich vor Verallgemeinerungen hüten soll, gilt es in der Psychotherapie mit Patienten aus traditionellen Kulturen einige Grundsätze zu beachten
(Tab. 3). Im Umgang mit Migranten oder bei Tätigkeiten im Ausland wird der Therapeut häufig mit ungewöhnlichen Krankheitskonzepten wie den Glauben an eine übernatürliche Krankheitsursache konfrontiert. Es ist eine schwierige Aufgabe innerhalb dieser Denkschemata therapeutisch zu arbeiten und mit dem Patienten eine gemeinsame Handlungsebene zu finden.38


Der Cartesianische Leib-Seele-Dualismus hat das westliche Menschenbild entscheidend geprägt. Das östliche Denken kennt diesen Dualismus nicht und ist durch eine Suche nach der Harmonie und durch einen holistischen Standpunkt charakterisiert. Körper und Geist sind nicht kategorial unterschieden, sondern repräsentieren verschiedene Betrachtungsweisen der ganzen Person. Aus westlicher Perspektive neigen asiatische und afrikanische Patienten dazu, psychologische Probleme zu somatisieren. Umgekehrt erscheint es aus nichtwestlicher Perspektive so, als psychologisierten Angehörige westlicher Kulturen somatische Probleme. Um einen therapeutischen Zugang zu Patienten aus fremden Ethnien zu finden, sind Wissen um den kulturellen Hintergrund, kulturelle Sensibilität und Kompetenz dringend erforderlich.39

resümeeDie Diagnostik und Behandlung psychotischer Erkrankungen ist mit zahlreichen Fallstricken verbunden. Idioms of Distress, fremdartige Krankheitskonzepte und ungewohnte phänomenologische Gestaltungen psychiatrischer Bilder sind häufig Anlass für Fehldiagnosen und für letztlich kontraproduktive Therapieansätze. Im Zeitalter der Globalisierung und der weltweiten Migrationsbewegungen ist der Erwerb von interkultureller Kompetenz und transkulturell- psychiatrischem Wissen eine Aufgabe, für die deutlich mehr Ressourcen bereit – gestellt werden müssen als gegenwärtig vorhanden sind.

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