Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Migranten

Internationalen Definitionen zufolge umfasst die Bezeichnung “Bevölkerung mit Migrationshintergrund” alle Personen eines Landes, deren Eltern im Ausland geboren sind, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. In Österreich leben derzeit etwa 1,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund (17,8% der Bevölkerung), wobei 40% im Großraum Wien beheimatet sind. Der Großteil dieser Personen gehört der “ersten Generation” an, d.h. sie wurden im Ausland geboren und sind nach Österreich zugewandert (73,8%). Die verbleibenden 26,2% sind im Inland geborene Nachkommen von einem oder von zwei Elternteilen mit ausländischem Geburtsort, die als “Migranten der zweiten Generation” bezeichnet werden.1
Menschen mit Migrationshintergrund bilden dabei eine sehr heterogene Gruppe mit unterschiedlicher kultureller, ethnischer, religiöser oder sozialer Herkunft. Um für diese Bevölkerungsgruppe eine adäquate medizinische Versorgung zu gewährleisten, wurde 1994 von Dr. Alexander Friedmann an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Allgemeinen Krankenhauses Wien die Ambulanz für Transkulturelle Psychiatrie gegründet, in der inzwischen insgesamt über 2.000 Migranten behandelt wurden.
Im Folgenden soll ein Überblick über die ersten Ergebnisse der Datenauswertung der Jahre 1994 bis 2007 gegeben werden, wobei vorausgeschickt werden muss, dass sich in unseren Angaben eine Kombination aus Krankheitshäufigkeit und dem Inanspruchnahmeverhalten für ein ambulantes Betreuungsangebot abbildet.

Behandlungsprävalenz von Patienten mit Migrationshintergrund

Jeder Patient wurde gemäß der ICD-10- Klassifikation diagnostiziert und mittels eines standardisierten Fragebogens (Cross Cultural Document©) bezüglich soziokultureller Hintergründe, migrationsrelevanter Daten und belastender Lebensereignisse befragt.2
Für die hier vorgestellte Analyse erfolgte eine Gruppierung der Patienten basierend auf der Traumaanamnese sowie auf Angaben zur Einreisemotivation. Unterschieden wurde zwischen freiwilligen (vorwiegend Wirtschaftsmigranten, Besucher oder Touristen) und unfreiwilligen Migranten (zumeist Asylsuchende und Flüchtlinge) sowie zwischen traumatisierten und nichttraumatisierten Patienten.
Von 1994 bis 2007 wurden in der Ambulanz für Transkulturelle Psychiatrie Wien 1.771 Personen mit Migrationshintergrund aus insgesamt 98 ethnischen Gruppen vorstellig. In der überwiegenden Mehrzahl handelte es sich dabei um Migranten der ersten Generation (94,7%), während jeder Zwanzigste von unseren Patienten in Österreich geboren wurde (5,3%). Von den Einwanderern mit ausländischem Geburtsort stammten 91,8% aus Drittländern und 8,2% aus Staaten der Europäischen Union.

Herkunftsregionen: Die meisten Patienten kamen aus der Türkei (29,1%), wobei es sich vorwiegend um Wirtschaftsmigranten handelte, gefolgt von Zuwanderern und Flüchtlingen aus dem früheren Jugoslawien (26,8%).
Am dritthäufigsten wurden Migranten aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) vorstellig (15,1%). Dabei handelte es sich vorwiegend um Flüchtlinge aus Krisenregionen wie Tschetschenien oder Aserbaidschan. Häufig wurden auch Einwanderer aus dem asiatischen Raum (14,6%) wie Flüchtlinge aus Palästina, Afghanistan oder dem Irak gesehen. Deutlich seltener waren ambulante Kontakte mit osteuropäischen Wirtschaftsmigranten der EU-Beitrittsstaaten von 2004 und 2007 (6,4%). Gemessen an ihrer Anzahl in der Wohnbevölkerung suchten ungewöhnlich viele Einwanderer aus Schwarzafrika (5,1%) unsere Ambulanz auf, wohingegen Migranten aus den EU-15-Staaten (1,7%) und Amerika (1,1 %) kaum vertreten waren (Abb.).
Das Durchschnittsalter unserer Patienten betrug 35,6 (± 10,5) Jahre. Sie wurden nach einer durchschnittlichen Krankheitsdauer von 6,2 (± 7,8) Jahren in die Ambulanz zugewiesen. Befragt nach der Motivation der Einreise, gab die Mehrzahl unserer Patienten (64,9%) an, ihr Heimatland aus freien Stücken verlassen zu haben, während etwa ein Drittel im Ausland Zuflucht finden wollte (35,1%). Bei einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von 12 Jahren besaß der Großteil der Migranten bereits die österreichische Staatsbürgerschaft oder zumindest eine permanente Aufenthaltsgenehmigung (67,0%). Bei 30,4% der Fälle handelte es sich rechtlich um Personen, die um Schutz vor Verfolgung ansuchten (Asylwerber) oder anerkannte Flüchtlinge waren. Der verbleibende Anteil bestand aus illegalen Zuwanderern und aus Menschen, welche als Besucher oder Touristen in Österreich waren.

Traumatische Erlebnisse: 588 Patienten (33,2%) berichteten im Anamnesegespräch von traumatischen Erlebnissen, wobei der Anteil an Wirtschaftsmigranten überraschend hoch war (43,4%). Außergewöhnlich belastende Erfahrungen fanden sich bei unfreiwilligen Migranten jedoch signifikant häufiger als bei freiwilligen Auswanderern (53,5% vs. 22,2 %, p < 0,001). Der Großteil der Traumaexpositionen (75,4%) ereignete sich dabei in der Prämigrationsphase, also in jener Periode vor dem eigentlichen Wanderungsvorgang.3

Diagnosen: Bei der überwiegenden Zahl der 1.771 Patienten, die in der Transkulturellen Ambulanz betreut wurden, musste mehr als eine psychiatrische Diagnose gestellt werden. Als Erstdiagnose wurden dabei am häufigsten Störungen aus dem neurotisch-erlebnisreaktiven Formenkreis (63,8%) diagnostiziert. Am zweithäufigsten fand sich eine affektive Störung (13,9%), am dritthäufigsten Schizophrenien und verwandte Störungsbilder (9,3%). In 5,3 % der Fälle wurde primär eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, wobei es sich vor allem um eine paranoide oder histrionische Form handelte.
Selten waren Patienten mit einer substanzgebundenen (3,3%) oder einer hirnorganischen Störung (3,1%) vorstellig. Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (1,2%) und Minderbegabungen (0,2%) waren schließlich eine Rarität. Wenn man die Prävalenz aller Diagnosen in den von uns in acht geosoziale Kulturregionen zusammengefassten Ländern betrachtet, so zeigt sich folgende Verteilung (Tab.).
Neurotische, somatoforme und belastungsbedingte Störungen fanden sich zumeist bei Patienten, die aus Krisengebieten der ehemaligen Sowjetunion, Asiens oder Afrikas stammten und vorwiegend unfreiwillig emigriert waren. Im Gegensatz dazu waren Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis sowie Persönlichkeitsstörungen häufiger bei Wirtschaftsmigranten aus den Unionsländern und Amerika zu finden. Bei allen übrigen Erkrankungen fanden sich keine relevanten regionalen Verteilungsunterschiede.

Trauma und Migration

Migranten, welche von traumatischen Erlebnissen berichtet hatten, zeigten signifikant häufiger neurotische und erlebnisreaktive Erkrankungen als Zuwanderer ohne Traumaerfahrung (90,5% vs. 52,6%, p < 0,001). Etwa ein Drittel (33,8 %) der Traumatisierten erfüllte dabei die Kriterien einer traumatypischen Folgestörung nach ICD-10, wobei 26,0% das Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) und 7,8% eine Persönlichkeitsveränderung nach Extremtraumatisierung (ICD-10: F60.2) aufwiesen. Interessanterweise entwickelten freiwillige Migranten mit Traumaerfahrung häufiger eine psychotraumatische Folgestörung als Flüchtlinge (43,1% vs. 26,7%, p < 0,001). Traumatypische Störungen waren jedoch signifikant häufiger bei unfreiwilligen Zuwanderern zu finden (14,3% vs. 9,6%, p < 0,01).
Anpassungsstörungen und somatoforme Störungen kamen bei unfreiwilligen und freiwilligen Migranten etwa gleich häufig vor. Im Gegensatz dazu waren affektive Störungen und Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis vorwiegend bei jenen Migranten zu finden, welche kein traumatisches Erlebnis berichtet hatten und zumeist aus freien Stücken nach Österreich eingewandert waren (21,9% vs. 9,7%, p < 0,001; 12,7% vs. 3,2%, p < 0,001). Dabei zeigten sich bei türkischen und asiatischen Einwanderern häufiger schizophrene Störungen mit chronischem, hebephrenem Verlauf, während bei den Zuwanderern aus Schwarzafrika oft akut polymorphe Psychosen, schizophreniforme Psychosen sowie schizoaffektive Erkrankungen zu finden waren. Depressionen wurden schließlich vorwiegend bei Migranten diagnostiziert, welche sich bereits seit längerer Zeit in Österreich befanden, während Anpassungsstörungen häufig in den ersten Monaten nach der Ankunft auftraten.3

Migration und psychische Erkrankungen

Wenngleich der Einfluss von Migrationserfahrungen auf die Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Erkrankungen derzeit noch weitgehend ungeklärt ist, herrscht Einigkeit darüber, dass Menschen mit Migrationshintergrund häufigen Belastungen und spezifischen Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind, wobei Asylsuchende und Flüchtlinge aufgrund von traumatischen Erlebnissen und einer langanhaltenden Rechtsunsicherheit besonders betroffen sind. Migration wird in diesem Kontext als prozesshaftes Geschehen und kritisches Lebensereignis verstanden, welches mit einem radikalen und tiefgreifenden Wandel des Selbst- und Weltbildes einer Person verbunden sein kann. Während traumatische Erlebnisse einen Hauptrisikofaktor in der Prämigrationsphase darstellen, sind es in der Periode der Postmigration spezifische Anforderungen der Akkulturation, welche zu einer Überlastung des Individuums führen können.4-7
In diesem Zusammenhang berichten zahlreiche Studien von einer höheren Belastung für psychische Störungen bei Migranten.8-12 In einer aktuellen Übersichtsarbeit von 37 Studien aus 18 Ländern konnte dabei festgestellt werden, dass bei unfreiwilligen Einwanderern höhere Prävalenzraten für depressive Störungen und Angsterkrankungen gefunden werden konnten als bei Arbeitsmigranten.13 Eine rezente Untersuchung an einer Stichprobe der deutschen Allgemeinbevölkerung konnte im Gegensatz dazu jedoch keine relevanten Unterschiede zwischen Migranten und Personen ohne Migrationserfahrung feststellen.14
Seit der vielzitierten Arbeit des norwegischen Psychiaters Ørnulv Ødegaard aus dem Jahre 1932 wurde auch wiederholt beschrieben, dass bei Einwanderern häufiger schizophrene Erkrankungen festzustellen sind.12 Cantor-Graae und Selten zeigten ferner, dass das Erkrankungsrisiko in der ersten Generation geringer war als jenes in der zweiten Generation und dass Zuwanderer mit schwarzer Hautfarbe gegenüber Migranten anderer Hautfarbe ein etwa doppelt so hohes Risiko hatten.11 Hierbei ist aber zu beachten, dass Einwanderer aus Schwarzafrika häufig Symptomkonstellationen wie Verfolgungsängste, Verzauberungsideen, Vorstellungskonkretisierungen oder bizarre Körpermissempfindungen zeigen, welche als Anzeichen einer Schizophrenie fehlgedeutet werden könnten.3
Da derzeit keine bevölkerungsrepräsentativen Studien zur Prävalenz von psychischen Störungen bei Migranten vorliegen, ist es kaum möglich, von den vorliegenden Untersuchungen übergreifende Aussagen abzuleiten. Die Datenlage deutet momentan eher darauf hin, dass Migranten im Vergleich zu Personen ohne Migrationserfahrung keine wesentlich erhöhte psychische Morbidität aufweisen, wenngleich einige Störungsgruppen in speziellen Subpopulationen nachweislich häufiger zu finden sind.8 Ferner können kulturspezifische Aspekte (z.B. Krankheits- und Gesundheitskonzepte), migrationsspezifische Faktoren (z.B. Sprache, Aufenthaltsstatus, Beschäftigungsstatus etc.) und Aspekte der Versorgungssysteme (z.B. Zugangsbarrieren, interkulturelle Kompetenz) zu Fehldiagnosen oder zu einer geringeren Inanspruchnahmerate führen.

Ausblick

Um die Belastung mit psychischen Erkrankungen bei Personen mit Migrationshintergrund einschätzen zu können, sind Untersuchungen erforderlich, die deutlich über die hier vorgestellte Datenanalyse hinausgehen. Ein erster Schritt dazu wäre eine regionale ambulante und stationäre Stichtagerhebung. Daraus lassen sich das Inanspruchnahmeverhalten sowie die Verteilung der psychischen Störungsbilder in verschiedenen Minoritäten im Vergleich zu den einheimischen Patienten ableiten. Zur Erfassung der realen Prävalenzen müssen hingegen populationsbasierte Untersuchungen in den einzelnen Minoritäten durchgeführt werden.

resümeeDie erste Datenanalyse der Transkulturellen Ambulanz der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Wien konnte zeigen, dass es sich bei Patienten mit Migrationshintergrund um keine homogene Population handelt, wobei sich deutliche Unterschiede zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Migranten fanden. Um dieser Bevölkerungsgruppe eine adäquate medizinische Versorgung zu gewährleisten, sind weitere differenzierte Informationen über die Prävalenz psychischer Störungen sowie über kulturspezifische Krankheitskonzepte und Behandlungserwartungen unerlässlich.

 

1 Baldaszti E, Marik-Lebeck S, (Statistik Austria), Migration und Integration. Zahlen, Daten, Indikatoren 2010. Statistik Austria, Wien 2010
2 Dilling H, Mombour W, Schmidt MH, Schulte-Markwort E (WHO), Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V(F). Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis (4. Aufl.). Huber Verlag, Bern 2006
3 Stompe T, Ritter K (Hrsg), Psychisch kranke Migranten. Die Versorgungssituation in Österreich. Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien 2010
4 Sluzki CE, Psychologische Phasen der Migration und ihre Auswirkungen. IN: Hegemann T., Salman R. (Hrsg): Transkulturelle Psychiatrie. Konzepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen. Psychiatrie Verlag, Bonn 2001
5 Stompe T, Holzer D, Friedmann A, Pre-migration and mental health. In: Bhugra D, Graig T, Bhui K (eds), Mental health of refugees and asylum seekers. Oxford University Press, Oxford 2010
6 Bhugra D, Gupta S, Migration and mental health. Cambridge University Press 2011
7 Bhugra D, Gupta S, Bhui K, Craig T, Dogra N, Ingleby JD, Kirkbridge J, Moussaoui D, Nazroo J, Qureshi A, Stompe T, Tribe R, WPA guidance on mental health and mental health care in migrants. World Psychiatry 2010; 9
8 Bermejo I, Mayninger E, Kriston L, Härter M, Psychische Störungen bei Menschen mit Migrationshintergrund im Vergleich zur deutschen Allgemeinbevölkerung. Psychiat Prax 2010; 37:225-232
9 Bhugra D, Migration and Depression. Acta Psychiatr Scand Suppl. 2003; 418:67-72
10 Fazel M, Wheeler J, Danesh J, Prevalence of serious mental disorder in 7000 refugees resettled in Western countries: a systematic review. Lancet 2005; 36:1309-1314
11 Cantor-Graae E, Selten J, Schizophrenia and migration: a meta-analysis and review. Am J Psychiatry 2005; 162:12-24 12 Ødegaard Ø, Emigration and insanity: a study of mental disease among the Norwegian-born population of Minnesota. Acta Psychiatr Neurol Scand 1932; 4(Suppl.):1-206 13 Lindert J, Brähler E, Wittig U, Mielck A, Priebe S, Depressivität, Angst und Posttraumatische Belastungsstörung bei Arbeitsmigranten, Asylwerbern und Flüchtlingen. Psychother Psych Med 2008; 58:109-122 14 Glaesmer H, Wittig U, Brähler E, Martin A, Mewes R, Rief W, Sind Migranten häufiger von psychischen Störungen betroffen? Psychiat Prax 2009; 36:16-22