Leergefischt? Qualifiziertes Personal ist nicht nur in Österreich Mangelware

Die Medizinprodukte-Verordnung (MDR) und die In-vitro-Diagnostika-Verordnung (IVDR) bilden den Rechtsrahmen für Unternehmen, die Medizinprodukte herstellen und vertreiben. Im Gegensatz zu bisherigem Recht müssen Betriebe künftig eine Reihe sehr strenger Anforderungen erfüllen. Das ist wichtig für den sicheren Einsatz der Produkte, gleichzeitig sind diese Anforderungen so hoch, dass viele Unternehmen fürchten, dass ihre Produkte nicht mehr auf dem Markt bestehen können. So gibt es zum Beispiel kürzere Meldefristen bei der Marktüberwachung, Produkte werden in höhere Risikoklassen eingestuft und benötigen daher mehr klinische Daten und viele zusätzliche Berichte und Pläne sind erforderlich.

Für eine sichere Zulassung

All diese neuen Aufgaben benötigen im Arbeitsalltag nicht nur mehr Zeit und Geld, sondern auch zusätzliches Personal. „Die breit gefächerte Fachkompetenz Benannter Stellen basiert auf einer einwandfreien Zusammenarbeit und einem gegenseitigen Verständnis zwischen Klinikern, technischen Experten, Auditoren und der Projektleitung der Benannten Stelle. Dies ist nicht unüblich, da die gleichen Funktionen auch bei den Medizinprodukte-Herstellern bei der Entwicklung dieser Medizinprodukte und In-vitro Diagnostika eng kooperieren.
Die Herausforderung für neue Benannte Stellen besteht darin, dass man eine ausgeglichene Kombination von internen und externen Experten schaffen muss, die harmonisch in den jeweiligen Funktionen und genau definierten Aufgaben im Rahmen des Konformitätsbewertungsverfahrens mit einem Fokus zusammenarbeiten, nämlich der Zulassung sicherer Medizinprodukte“, bringt es der Experte Dr. Raymond Nistor, Head Clinical Compliance & Surveillance, QMD Services GmbH, auf den Punkt. QMD Services wurde im Dezember 2018 als Tochterunternehmen der Quality Austria – ­Training, Zertifizierung und Begutachtung GmbH mit Sitz in Wien und Linz gegründet. Das Unternehmen wird Konformitätsbewertungstätigkeiten im Bereich Medizinprodukte und ­In-vitro Diagnostika durchführen. Der Benennungsprozess ist noch im Laufen.

Komplexes Wissen und Erfahrung

Welches Personal es tatsächlich braucht, ergänzt Dr. Anni Koubek, Geschäftsführerin QMD Services: „Es gibt verschiedene organisatorische Strukturen bei Benannten Stellen, aber grundsätzlich gibt es zwei redundante Überprüfungsebenen. Einerseits das autorisierende Personal, der interne Kliniker, die Endprüfer und die Entscheidungsträger, die zwingend Angestellte der Benannten Stelle sein müssen. Andererseits gibt es die Produktexperten, Auditoren und klinischen Spezialisten, die abhängig von der Größe der Benannten Stelle intern, extern oder eine Kombination der beiden sein können.“ Das Personal hat je nach Aufgabenbereich einen meist komplexen Hintergrund, oft kombiniert: universitäre und Forschungseinrichtungen, Fachhochschulen, Klinik, Medizinprodukte oder In-vitro-Diagnostika-Hersteller, spezialisierte Beratungsunternehmen, andere Benannte Stellen oder gar nationale Überwachungsbehörden. „Was aber immer zählt, ist der Nachweis einer umfassenden Erfahrung mit dem zu prüfenden Produkt“, betont ­Nistor.
Dass daher Behörde, Benannte Stellen und Unternehmen jetzt alle im „selben Teich“ nach Personal fischen, liegt auf der Hand. „Man kann dabei auch über eine Überfischung reden. Die Anzahl der Personen ist limitiert und darüber hinaus sind die Kompetenz und Erfahrung der Experten variabel. Durch den erhöhten Fokus der neuen Verordnungen auf klinische Aspekte, Behandlungsnutzen und Patientensicherheit wurden neue Schwerpunkte gesetzt, die mit der veralteten Mentalität der vorausgegangenen Richtlinien kollidieren. Das heißt, dass viele der bestehenden Experten deutlich umdenken müssen“, sind sich Nistor und Koubek einig.

Sicherheit nicht immer im Fokus

Der Bedarf an Fort- und Weiterbildung für den neuen Zugang zur CE-Zertifizierung von Medizinprodukten und In-vitro Diagnostika ist immens. Die größte Herausforderung ist, dass aufgrund des komplizierten Zulassungssystems und aufgrund der hohen Anforderungen an die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit die Akteure nicht wirklich miteinander kooperieren können. „Das führt leider zu einseitigen Betrachtungsweisen, die oft die Sicht des klinischen Anwenders und des Patienten, aber auch die grundlegende Intention der Verordnungen, nämlich die Patientensicherheit, weitgehend missachten. Ein einwandfreies Qualitätsmanagement-System eines Herstellers heißt noch lange nicht, dass das Produkt einen klinischen Nutzen hat und dass es keine zusätzlichen Gefahren für den Patienten darstellt, etwa durch unzureichende Nutzerinformation oder Anwendertraining“, sagt Nistor. Bei der Ausbildung der Fachkräfte gibt es hohen Nachholbedarf nicht nur für die Benannten Stellen, sondern auch für die Hersteller, nationalen Behörden und die Kommission.

Neues Berufsbild gefragt

So wie die Experten „erfahrene, spezialisierte Allrounder“ sein müssen, fällt auch die Liste der Anforderungen an die Weiterbildungen durchaus umfangreich aus. In erster Linie gilt es, die beiden Regelwerke MDR und IVDR im Detail zu kennen und zu verstehen. Auditoren-­Lehrgänge, produktspezifische Lehrgänge, harmonisierte Normen, klinische Bewertung, Risiko Management, Trainings zu den Medical Device Coordination Group (MDCG) Richtlinien oder Wissen um klinische Prüfungen ergänzen die vielfältigen Anforderungen.
„Aktuell bieten Beratungsunternehmen, die meistens von ehemaligen Mitarbeitern von nationalen Behörden oder Benannten Stellen gegründet wurden, Lehrgänge in unterschiedlichster Qualität und Intensität an. Es gibt diesbezüglich keine definierten Qualitätsstandards“, erklärt Nistor. Die Benannten Stellen und nationalen Behörden bilden ihr eigenes Personal aus, dürfen aber selbst nicht beraten. „Es wäre wahrscheinlich sinnvoll, ein neues Berufsbild zu schaffen, das diese besonderen Kompetenzen, die für den komplexen Prozess der Konformitätsbewertung von Medizinprodukten und In-vitro Diagnostika benötigt werden, erst einmal formalisiert“, meint der Experte.