ÖGN 2012: Diagnostische Entwicklungen: Genetik

 

Im Jahr 2008 wurde die Sequenz des Genoms von James Watson, der zusammen mit Francis Crick 1953 die Struktur der DNA beschrieb, in Nature veröffentlicht. Die DNA-Sequenz seines Genoms ist seither bis auf seinen APOE-Genotyp für jeden frei zugänglich. 1 Die Sequenzierung von Watsons Genom dauerte 4,5 Monate und kostete < 1,5 Millionen Dollar. Dies ist eine unglaublich kurze Zeit bei sehr geringen Kosten, wenn man bedenkt, dass die Sequenzierung des menschlichen Genoms im Rahmen des Human Genome Projects 13 Jahre dauerte und 2,7 Milliarden Dollar kostete.
Watsons Genom war nicht das erste Genom eines Individuums, das sequenziert wurde. Jenes von Craig Venter, Gründer der Firma Celera Corporation, ein direkter privater Konkurrent des Human Genom Projects, wurde 2007 veröffentlicht, die Dauer der Sequenzierung betrug 4 Jahre, die Kosten lagen bei 100 Millionen Dollar. Watsons Genom war aber das erste Genom, das mittels einer neuen Technologie, dem so genannten „next generation sequencing“ (NGS), entschlüsselt wurde. Die Entwicklung dieser Technologie wird durch Pioniere wie Jonathan M. Rothberg, „The Steve Jobs of biotechnology“ (New York Times) vorangetrieben. Ihre Vision heißt „personal genomics“, wonach das Genom jedes Patienten/jeder Patientin sequenziert wird, um auf das Individuum zugeschnittene Prävention und Therapie zu ermöglichen. Damit „personal genomics“ tatsächlich Einzug in den klinischen Alltag findet, müssten die Kosten der Sequenzierung drastisch reduziert und der Durchsatz deutlich erhöht werden. Das deklarierte Ziel ist, die Sequenzierung eines menschlichen Genoms innerhalb eines Tages und um weniger als 1000 Dollar durchführen zu können.

Phänotyp und Genotyp

Es gibt keinen Phänotyp (Merkmal) oder keine Erkrankung, der/die nicht genetische Komponenten hat, sei es nur die Suszeptibilität für eine Infektion oder das Ansprechen auf bestimmte Medikamente. Bei monogenetischen Erkrankungen, wie z. B. Chorea Huntington, ist die Korrelation zwischen Mutation und klinischem Bild meistens klar definiert, wobei auch hier innerhalb einer Familie Unterschiede im Schweregrad der Erkrankung beobachtet werden. Es gibt also neben der kausalen Mutation auch bei monogenetischen Erkrankungen noch andere genetische Faktoren und Umweltfaktoren, die eine modifizierende Rolle spielen. Bei häufigen multifaktoriellen Erkrankungen wie Schlaganfall oder Demenz ist der Zusammenhang zwischen Genotyp und Phänotyp viel komplexer. Man nimmt an, dass hier meistens mehrere Mutationen mit relativ kleinem Effekt und Umweltfaktoren in Interaktion miteinander erst zum Ausbruch der Erkrankung führen. Mittels NGS werden wir in der Lage sein, das gesamte Genom eines Patienten/einer Patientin zu sequenzieren und alle Mutationen (geschätzt sind das per Individuum mehrere Hunderttausend Sequenzvarianten, von denen ca. 3000 bis 4000 die Aminosäuresequenz von Proteinen verändern) im Genom zu erfassen. Neben den kausalen oder modifizierenden Mutationen werden durch „whole genome sequencing“ auch solche Mutationen gezeigt, die das Risiko anderer Erkrankungen beeinflussen oder den Metabolismus und die Kinetik von Pharmaka verändern. Die meisten Mutationen, die gefunden werden, werden aber wahrscheinlich gar keine Auswirkung auf die Gesundheit des Patienten/der Patientin haben.
NGS wird es dem Arzt/der Ärztin ermöglichen, die genetische Konstellation des Patienten/der Patientin in seiner Gesamtheit zu betrachten. Derzeit darf eine Genanalyse nur auf Veranlassung eines/einer in Humangenetik ausgebildeten Arztes/Ärztin oder eines/einer für das betreffende Indikationsgebiet zuständigen Facharztes/Fachärztin (§65, Gentechnikgesetz) durchgeführt werden. Das Labor bekommt einen klaren Auftrag, entweder spezifische Mutationen nachzuweisen oder ein Gen (meist nur die kodierende Region) auf mögliche Mutationen zu screenen. In der Einverständniserklärung stimmt der Patient/die Patientin diesem Auftrag zu, die Untersuchung weiterer Gene ist nicht zulässig.
In der Ära des „personal genomics“ wird die Genanalyse aber nicht mehr auf eine Mutation oder ein Gen beschränkt sein, sondern man wird entweder alle krankheitsassoziierte Gene, oder die gesamte kodierende Region des Genoms, das so genannte Exom (ca. 1,2 % des menschlichen Genoms oder 36 Megabasen), oder im Extremfall überhaupt das ganze Genom (6,2 Gigabasen in diploidem Zustand) untersuchen.
Im ersten Fall sprechen wir von „targeted sequencing“. Dieses kann besonders bei der Abklärung von Erkrankungen wie Morbus Charcot-Marie-Tooth, wo mehrere Gene mit vielen unterschiedlichen Mutationen zur Krankheit führen und diese Gene einen Großteil der Fälle erklären, nützlich sein. Im zweiten Fall sprechen wir über „exome sequencing“. Dieses ist besonders attraktiv bei monogenetischen Erkrankungen, wo genetische Defekte noch unbekannt sind oder wo die bekannten Gene nur einen geringen Anteil der Fälle erklären. Im dritten Fall geht es um „whole genome sequencing“. Dieser Ansatz erlaubt die Erfassung aller genetischen Varianten eines Individuums, und dies wird – obwohl heute noch zu teuer und schwer interpretierbar – früher oder später die Methode der Wahl sein. Derzeit haben „targeted sequencing“ und „exome sequencing“ die besten Kosten-Nutzen-Indizes und werden bald in der Routinediagnostik eingesetzt werden.

Beispiel für „targeted sequencing“

Hier soll ein Beispiel für „targeted sequencing“ veranschaulichen, welche Ergebnisse diese Analysen liefern werden. In einer Studie bei Retinitis pigmentosa wurden 111 assoziierte Gene bei 100 sporadischen Fällen ohne bekannte Mutationen untersucht. Gefunden wurden ca. 130.000 Mutationen, von denen 774 durch eine systematische automatisierte Datenanalyse als möglicherweise pathogen eingestuft werden konnten. Durch weitere Segregationsanalyse (Vergleich von Gesunden mit Betroffenen in der Familie) und durch „silico protein modeling“ konnte bei 36 PatientInnen eine genetische Diagnose gestellt werden. Dabei handelte es sich um 27 rezessive, 6 dominante und 3 XChromosom- gebundene Fälle.
Drei PatientInnen hatten eine so genannte De-novo-Mutation, hatten also die Mutation nicht von ihren Eltern geerbt, sondern die Mutation trat erst bei ihnen auf. Ein wichtiger Befund, der darauf hinweist, dass bei sporadischen Fällen De-novo-Mutationen keine Seltenheit sind. Laut den AutorInnen können ca. 50 % der Retinitis-pigmentosa- Fälle durch diesen Ansatz aufgeklärt werden. Diese hohe Sensitivität geht allerdings Hand in Hand mit der Detektion von hunderttausenden nicht kausalen Sequenzvarianten, die die Interpretation der Ergebnisse extrem erschweren. Das Ausmaß des Problems ist natürlich bei „exom sequencing“ bzw. bei „whole genome sequencing“ noch viel größer. Hier muss man die wenigen pathogenen Mutationen von Millionen für die Diagnosestellung irrelevanten Mutationen, die der Patient/die Patientin in sich trägt, trennen. Dies ist nur durch den Einsatz von Bioinformatik und automatisierter Datenanalyse zu bewältigen.

Ethische Fragen

Natürlich sind mit dem Einsatz der NGS-Technologie auch viele ethische Fragen verbunden. Als Allererstes stellt sich die Frage, wie die Einverständniserklärung für Genanalysen in Zukunft aussehen soll und inwieweit der Patient/die Patientin über die Komplexität und Tragweite solcher Analysen überhaupt aufgeklärt werden kann.
Weitere wichtige ethische Aspekte haben mit der extrem hohen Anzahl der detektierten Mutationen zu tun. Was soll dem Patienten/der Patientin kommuniziert werden? Nur die klar pathogene Mutation bei der untersuchten Krankheit oder auch pathogene Mutationen für andere Erkrankungen, die zufällig auch gezeigt wurden, ohne dass sich die Krankheit bisher manifestiert hat? Wie soll man mit Suszeptibilitätsgenvarianten umgehen, die das Risiko für Schlaganfall, Demenz etc. erhöhen? Sollen diese dem Patienten/der Patientin mitgeteilt werden? Wer übernimmt die Folgekosten, wenn anhand solcher Befunde weitere Untersuchungen notwendig sind? Hat der Arzt/die Ärztin die Verantwortung, den Patienten/die Patientin zu kontaktieren, wenn bei ihm/ihr eine Mutation gefunden wurde, die derzeit als harmlos eingestuft wird, sich aber durch weitere Forschung als pathogen erweisen könnte?
Diese und viele weitere Fragen zeigen, dass in der Ära der „personal genomics“ die Medizin gefordert ist, neue Richtlinien zu erarbeiten, die das Potenzial der Technologie maximal nutzen, aber auch gleichzeitig dem Patienten/der Patientin eine bewusste Entscheidung über die Entschlüsselung seines/ihres eigenen und einzigartigen Genoms erlauben.

 

1 siehe http://jimwatsonsequence.cshl.edu/cgiperl/gbrowse/jwsequence