ÖGN 2012: Altern, Kognition und zerebrale Reserve

Hinweise aus der Neuropathologie: Den Ausgangspunkt für das Konzept der zerebralen Reserve bildet eine wiederkehrende Beobachtung in klinisch-pathologischen Untersuchungen: Zwischen 15 und 50 % derjenigen älteren Menschen, die bei der Autopsie die charakteristischen Merkmale der Alzheimer-Krankheit aufweisen, hatten zu Lebzeiten keine nennenswerten kognitiven Einschränkungen1. Diese Diskrepanz lässt zwei verschiedene Erklärungen zu: Entweder sind die für die Krankheit kennzeichnenden histopathologischen Veränderungen am Zustandekommen der klinischen Symptome nur unwesentlich beteiligt, was auf Grund der nachweislich engen Zusammenhänge zwischen Amyloidplaques sowie Neurofibrillenveränderungen und dem klinischen Schweregrad unwahrscheinlich ist2, oder es gibt Faktoren, die bei einem Teil älterer Menschen der klinischen Manifestation von pathologischen Veränderungen entgegenwirken.

Aufschlüsse aus epidemiologischen Studien: Anhaltspunkte dafür, um welche Faktoren es sich dabei handeln könnte, ergeben sich aus epidemiologischen Untersuchungen. Sie zeigen, dass biografische Merkmale wie überdurchschnittliche prämorbide Intelligenz, gute Schulbildung, hohe berufliche Qualifikation und geistig aktiver Lebensstil mit einem um 50 % verminderten Risiko für das Auftreten einer Demenz im Alter verknüpft sind3. Aber auch anatomische Parameter wie die Hirngröße stehen mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit des Auftretens kognitiver Einschränkungen in Zusammenhang4.
Aus diesen Erkenntnissen wurde das duale Konzept der zerebralen Reserve abgeleitet. Es geht davon aus, dass sich die individuelle Widerstandsfähigkeit des Gehirns gegenüber neurodegenerativen Prozessen im Alter aus strukturellen und funktionellen Komponenten zusammensetzt5. Von manchen Autoren werden diese Faktoren auch als passive und aktive Anteile der Reserve bezeichnet. Maße für die strukturelle Reserve sind intrakranielles Volumen, Kopfumfang, Synapsenzahl, Neuronendichte und Grad der dendritischen Verzweigung. Die Vorstellungen zur Funktion dieser Merkmale sind quantitativ: Bei einer insgesamt größeren neuronalen Masse muss ein größerer Teil der zerebralen Substanz durch pathologische Veränderungen zerstört werden, bevor die Schwelle zur klinischen Manifestation überschritten wird.
Zur funktionellen Reserve werden prämorbide Intelligenz, Schulbildung, berufliche Qualifikation und geistig aktiver Lebensstil gerechnet. Die Wirkung dieser Faktoren erklärt man mit einem qualitativen Modell: Ein effizienter organisiertes und intensiver trainiertes Gehirn ist besser in der Lage, im Falle von chronischen Schädigungen seine Funktionsfähigkeit durch vermehrte Rekrutierung neuronaler Netze, durch Einsatz alternativer Netzwerke oder durch bessere Deaktivierung störender Netze aufrechtzuerhalten6. Die strukturellen und funktionellen Komponenten der zerebralen Reserve sind nicht voneinander unabhängig. Beispielsweise besteht eine enge Beziehung zwischen Intelligenz und Hirnvolumen7. Auch sind Intelligenz im Kindesalter, Schulbildung und berufliche Qualifikation eng miteinander verflochten8.

Interaktionen zwischen Reserve und Pathologie: Das Konzept der zerebralen Reserve sagt voraus, dass zwischen den verschiedenen Faktoren der Reserve und den pathologischen Veränderungen Interaktionen stattfinden. Dabei lassen sich zwei grundsätzliche Formen der Interaktion unterscheiden. Von Neuroprotektion wäre zu sprechen, wenn Reservefaktoren das Auftreten von pathologischen Veränderungen verhindern oder ihr Fortschreiten verlangsamen würden. In entsprechenden Untersuchungen müsste dann zu beobachten sein, dass bei Menschen mit größerer Reserve die Anzahl von Amyloidplaques und Neurofibrillenbündeln geringer ist sowie bei längsschnittlicher Beobachtung in geringerem Maß zunimmt. Eine Kompensation läge vor, wenn Reservefaktoren zwar weder die Ausprägung noch das Fortschreiten der pathologischen Veränderungen beeinflussen, jedoch deren Manifestation verhindern oder abschwächen. In diesem Fall sollte nachweisbar sein, dass Personen mit größerer Reserve bei gleicher Ausprägung von Indikatoren der Pathologie klinisch weniger beeinträchtigt sind.
Diese Zusammenhänge sind in zahlreichen Studien untersucht worden. Von großer Bedeutung ist die Erkenntnis aus einer multizentrischen klinisch-pathologischen Studie in Europa, dass zwischen der Schulbildung und der Ausprägung von Pathologieindikatoren (Atrophie, Anzahl der Amyloidplaques, Anzahl der Neurofibrillenbündel) kein Zusammenhang besteht9. Eine Interaktion im Sinne der Neuroprotektion ist also unwahrscheinlich. Dieselbe Studie spricht aber eindeutig dafür, dass eine höhere Schulbildung bei gleicher Ausprägung der pathologischen Indikatoren die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Demenz im Alter um die Hälfte senkt. Auch in einer klinisch-pathologischen Studie an Mitgliedern eines katholischen Ordens schwächte ein höherer Ausbildungsgrad den negativen Zusammenhang zwischen pathologischen Veränderungen und der kognitiven Leistungsfähigkeit ab10.
Somit ist ein kompensatorischer Effekt der zerebralen Reserve zu vermuten. Diese Annahme wird auch durch klinische Studien gestützt. Beispielsweise ließ sich zeigen, dass ein größerer Kopfumfang (als Maß für die maximale Größe des Gehirns und Parameter der strukturellen Reserve) den negativen Effekt atrophischer Veränderungen (als Pathologieindikator) auf die kognitive Leistungsfähigkeit abschwächt11. Auch konnte nachgewiesen werden, dass PatientInnen mit einer längeren Schulausbildung bei gleichem Schweregrad der klinischen Symptome signifikant stärkere Einschränkungen der neuronalen Stoffwechselaktivität in Alzheimer-typischen Regionen aufweisen12.

Mechanismen der zerebralen Reserve: An der kompensatorischen Wirkung der zerebralen Reserve kann kaum Zweifel bestehen. Unklar ist jedoch, ob sie durch strukturelle oder funktionelle oder durch beide Mechanismen vermittelt ist. Für eine Beteiligung von strukturellen Mechanismen spräche, wenn Faktoren der Reserve mit einer größeren Ausprägung hirnmorphologischer Merkmale wie Volumen oder kortikale Dicke in bestimmten Hirnteilen verbunden wären. Hierzu sind die Ergebnisse einer populationsbezogenen Autopsiestudie in England von Bedeutung, die einen Zusammenhang zwischen geistig aktivem Lebensstil und größerer kortikaler Dicke sowie höherer Neuronendichte im dorsolateralen präfrontalen Kortex belegt13. Interessant ist ferner eine Längsschnittstudie über drei Jahre an einer kleinen Gruppe von kognitiv gesunden Älteren, bei der eine lebenslang hohe kognitive Aktivität mit einer geringeren Größenabnahme des Hippokampus verbunden war14.
Eine Rolle von funktionellen Mechanismen wäre anzunehmen, wenn Personen mit größerer Reserve bei der Lösung von bestimmten kognitiven Aufgaben andere Muster der Aktivierung relevanter neuronaler Netze zeigten als Menschen mit geringerer Reserve. In beiden Fällen müsste zusätzlich nachgewiesen werden, dass das vermutete neuronale Substrat der Reserve mit einer verminderten Inzidenz oder einem langsameren Fortschreiten kognitiver Störungen in Beziehung steht. Dass grundsätzlich eine Beziehung zwischen zerebraler Reserve und der aufgabenspezifischen Aktivierung von neuronalen Netzen besteht, wurde an gesunden jüngeren und älteren ProbandInnen nachgewiesen. Bei den jüngeren Personen war ein höherer Reserveindex, zusammengesetzt aus einem Schätzwert für prämorbide Intelligenz und der Ausbildung, bei steigendem Schweregrad einer Gedächtnisaufgabe mit einer stärkeren Aktivierung eines bestimmten Netzwerks sowie mit einer Deaktivierung anderer Netzwerke verbunden. Bei älteren ProbandInnen hingegen war ein höherer Reserveindex mit einer verstärkten Rekrutierung alternativer Netzwerke verknüpft5.
Eine weitere Studie ergab Hinweise dafür, dass der Zusammenhang zwischen Indikatoren der Reserve und aufgabenbezogener Aktivierung von neuronalen Netzen bei gesunden und kognitiv beeinträchtigten älteren Menschen entgegensetzt sein könnte. Bei den gesunden älteren ProbandInnen nahm die Aktivierung im Sinne größerer neuronaler Effizienz mit steigender Reserve ab, bei den kognitive beeinträchtigten PatientInnen hingegen stieg die Aktivierung im Sinne größerer Kompensation mit steigender Reserve an15.

Modifizierbarkeit der zerebralen Reserve: Im Hinblick auf die Prävention von kognitiven Störungen und Demenz ist eine entscheidende Frage, ob zumindest einige der Faktoren, aus der sich die zerebrale Reserve zusammensetzt, modifizierbar sind, beispielsweise durch einen kognitiv, sozial oder körperlich besonders aktiven Lebensstil. Solche Hoffnungen gehen auf die Befunde zur zerebralen Plastizität zurück, die aber zum größten Teil an Tiermodellen gewonnen worden sind16. Hinweise auf erfahrungsabhängige zerebrale Plastizität in der zweiten Lebenshälfte sind spärlich. Beispielsweise erhöht körperliche Aktivität das Hippokampusvolumen17 und Gedächtnistraining verstärkt die kortikale Dicke in umschriebenen Hirnabschnitten18. Ob sich durch derartige Interventionen die Inzidenz und der Verlauf kognitiver Störungen im Alter beeinflussen lässt und durch welche Mechanismen solche Wirkungen vermittelt sind, müsste durch äußerst langfristig angelegte randomisierte Studien geklärt werden.

Resümee

Das Konzept der zerebralen Reserve versucht, die bei einem Teil der PatientInnen zu beobachtende Diskrepanz zwischen zerebraler Pathologie und klinischen Symptomen zu erklären. Der robuste Zusammenhang zwischen pathologischen Veränderungen und klinischen Symptomen legt die Annahme nahe, dass es Faktoren geben muss, die bei manchen älteren Menschen der klinischen Manifestation entgegen stehen. Epidemiologische Studien weisen auf die Bedeutung hirnstruktureller und biografischer Faktoren hin, wie intrakranielles Volumen, prämorbide Intelligenz, Schulbildung, berufliche Qualifikation und geistig aktiver Lebensstil. Untersuchungen zur Interaktion dieser Faktoren mit pathologischen Veränderungen zeigen, dass kompensatorische Wirkungen wahrscheinlicher sind als neuroprotektive Effekte. Bei den möglichen Mechanismen der zerebralen Reserve gibt es Anhaltspunkte dafür, dass sowohl eine größere neuronale Masse als auch eine höhere neuronale Effizienz und Kompensationsfähigkeit eine Rolle spielen könnten. Zu der im Hinblick auf die Prävention von kognitiven Störungen besonders wichtigen Frage der Modifizierbarkeit von Reservefaktoren gibt es bisher nur vereinzelte kurzfristige Interventionsstudien an älteren Populationen. Deren Ergebnisse sprechen dafür, dass die strukturelle Plastizität des Gehirns auch in der zweiten Lebenshälfte erhalten ist und möglicherweise zur Stärkung der zerebralen Reserve genutzt werden kann. Untersuchungen zur Modifizierbarkeit von neuronaler Effizienz und Kompensation gibt es bisher nicht.

 

1 Price JL, McKeel DW Jr, Buckles VD et al., Neuropathology of nondemented aging: Presumptive evidence for preclinical Alzheimer‘s disease. Neurobiol Aging 2009; 30:1026–1036.

2 Nelson PT, Jicha GA, Schmitt FA et al., Clinicopathologic correlations in a large Alzheimer disease center autopsy cohort: Neuritic plaques and neurofibrillary tangles „do count“ when staging disease severity. J Neuropathol Exp Neurol 2007; 66:1136–1146.

3 Valenzuela MJ, Sachdev P, Brain reserve and dementia: a systematic review. Psychol Med 2006; 36:441–454.

4 Matthews FE, Brayne C, Lowe J, McKeith I, Wharton SB, Ince P, Epidemiological pathology of dementia: Attributable-risks at death in the Medical Research Council Cognitive Function and Ageing Study. PLoS Medicine 2009; 6(11):e1000180.

5 Stern Y, Cognitive reserve. Neuropsychologia 2009; 47:2015–2028.

6 Steffener J, Stern Y. Exploring the neural basis of cognitive reserve in aging. Biochim Biophys Acta 2012; 1822:467–473.

7 McDaniel MA. Big-brained people are smarter: A meta-analysis of the relationship between in vivo brain volume and intelligence. Intelligence 2005; 33:337–346.

8 Richards M, Sacker A. Lifetime antecedents of cognitive reserve. J Clin Exp Neuropsychol 2003; 25:614–624.

9 EClipSE-Collaborative-Members. Education, the brain and dementia: neuroprotection or compensation? Brain 2010; 133:2210–2216.

10 Bennett DA, Schneider JA, Wilson RS, Bienias JL, Arnold SE. Education modifies the association of amyloid but not tangles with cognitive function. Neurology 2003; 60:953–955.

11 Perneczky R, Wagenpfeil S, Lunetta KL et al., Head circumference, atrophy, and cognition: Implications for brain reserve in Alzheimer disease. Neurology 2010; 75:137–142.

12 Kemppainen NM, Aalto S, Karrasch M et al., Cognitive reserve hypothesis: Pittsburgh compound B and fluorodeoxyglucose positron emission tomography in relation to education in mild Alzheimer‘s disease. Ann Neurol 2008; 63:112–118.

13 Valenzuela MJ, Matthews FE, Brayne C et al., Multiple biological pathways link cognitive lifestyle to protection from dementia. Biol Psychiatry 2011;Nov 2.

14 Valenzuela MJ, Sachdem P, Wen W, Chen X, Brodaty H, Lifespan mental activitiy predicts diminished rate of hippocampal atrophy. PLoS one 2008; 3:e2598.

15 Bartrés-Faz D, Arenaza-Urquijo EM, Structural and functional imaging correlates of cognitive and brain reserve hypotheses in helthy and pathological aging. Brain Topogr 2011; 24:340–357.

16 van Praag H, Exercise and the brain: something to chew on. Trens Neurosci 2009; 32:283–290.

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18 Engvig A, Fjell AM, Westlye LT et al., Effects of memory training on cortical thickness in the elderly. NeuroImage 2010; 21. Mai (doi:10.1016/neuroimage 2010. 05. 04).