Organische Psychosen: Überblick und Differentialdiagnosen

Symptomatik

Kognitive Funktionen: Die Alterationen der kognitiven Funktionen manifestieren sich als Auffassungsstörung, als Störungen des Denkens und des Denkablaufes, des Gedächtnisses, der Kritik-, der Diskriminations- und der Lernfähigkeit. Sie treten fast nie isoliert auf, sondern sind in wechselnden Kombinationen feststellbar. Das Symptom “Desorientiertheit zur Person” hat einen relativ hohen prädiktiven Wert. Konfabulation und Weitschweifigkeit, mit oder ohne Erreichen des Denkzieles, können jedenfalls – ebenso wie Perseverationen oder Stereotypien – differentialdiagnostisch wesentliche Kriterien hirnorganischer Syndrome sein. Störungen dieser Art haben eine hohe diagnostische Sensitivität und Spezifität für eine Diagnose aus der lCD-10-Kategorie F0.
Verhalten: Etwas weniger häufig sind die Bereiche Verhalten und Antrieb betroffen. Symptome aus diesen Bereichen können sowohl als “Plus-” wie auch als “Minus- Varianten” auftreten, beispielsweise also expansiv, unkritisch, enthemmt oder als Verhaltensdefizit im Sinne eines (sozialen) Rückzugs oder eines Antriebsmangels.
Die Emotionen zeigen ein wechselhaftes Spektrum von depressiven, maniformen, ängstlichen sowie Misch-Zuständen. Häufig findet sich eine Störung der Affektsteuerung, welche sich in Affektlabilität, aber auch -verflachung äußert. Dasselbe gilt für die Antriebslage der Betroffenen, welche reduziert, aber auch gesteigert sein kann.
Tabelle 1 zeigt einen Überblick, welche morphologischen und neurohumoralen Regelkreise am klinischen Bild der organischen Psychosen beteiligt sind.

Ursachen organischer psychischer Störungen

Die Ursachen für eine ZNS-Beteiligung können vielfach sein, sie können primärer, sekundärer oder gar tertiärer Natur sein und sich nur unmittelbar (transient und reversibel) wie aber auch mittelbar (andauernd und irreversibel) auf das Gehirn auswirken. Tabelle 2 fasst die Ursachen auch nach Typologien zusammen.
Spezielle Risikogruppen: Zu diesen Ätiologien lassen sich noch spezielle Risikogruppen identifizieren:

  • Personen höheren Lebensalters (natürliche verminderte Belastbarkeit);
  • Postkardiotomie-Patienten, bei welchen ein extrakorporaler Kreislauf angewandt werden musste;
  • Verbrennungspatienten stellen (abhängig von Grad und Ausmaß der Verbrennung) eine spezielle Gruppe dar, wobei unterschiedlichste toxische Substanzen eine Rolle spielen;
  • Patienten mit einer “verringerten zerebralen Kompensationsfähigkeit” (prämorbide dementielle Erkrankung, bekannte chronische Infektionen des ZNS [HIV, Lues], Personen nach Hirnschädigung durch Trauma oder Schlaganfall).

Diagnostisches Vorgehen

Diese durchaus unterschiedlichen Ätiologien organisch begründbarer psychischer Störungen zeigen die Notwendigkeit eines fundierten differentialdiagnostischen Vorgehens. Wesentlich bleibt aber eine rasche und auf die klinische Relevanz bezogene Diagnose. Tabelle 3 fasst die Vorgehensweise zusammen.
Die bisherige Darstellung macht verständlich, warum der (Außen-)Anamnese besondere Bedeutung zukommt. So kann die Tatsache eines Urlaubs in den Tropen oder anderen Gebieten mit endemischen Erkrankungen, die berufliche Exposition gegenüber Lösungsmitteln oder Schwermetallen, das Halten bestimmter Haustiere oder die Sport- und Freizeitgestaltung eines Menschen diagnostisch aufschlussreich sein und zu besonderen Untersuchungen Anlass geben, ebenso wie Vorlieben für bestimmte Speisen oder Getränke, bei deren Zubereitung bestimmte Zusätze (Glutamat!) oder Ingredienzien verwendet werden, die z. B. nicht gekocht werden.
Untersuchungen: Physikalische Untersuchungsmaßnahmen umfassen jedenfalls die Puls-, Temperatur- und Blutdruckmessung sowie die Durchführung eines EKG. An weiteren grundsätzlichen apparativen Maßnahmen empfiehlt sich je nach lndikation ein Thorax-Röntgen, die Durchführung eines EEG, eines CCT oder Schädel-MRI, gegebenenfalls eine Lumbalpunktion, die Abnahme von Blut zu einer Medikamentenspiegelbestimmung im Serum und (wenn durchführbar) die apparative psychologische Diagnostik von Hirnleistungsstörungen. Die bei spezieller Indikation durchzuführenden weiteren diagnostischen Untersuchungen und Maßnahmen sind stark abhängig von der (Verdachts-)Diagnose des Einzelfalles und reichen von der Bestimmung von Schwermetallen oder der Porphyrine über den Nachweis von Virusantikörpern oder bakterieller Erreger bis hin zu Parasiten wie Plasmodien, Toxoplasmen oder Amöben. Wie auch immer, die Suche nach Ursachen der organischen psychischen Störung und ihre Therapie ist eine interdisziplinäre Herausforderung.
Differentialdiagnose: Von absolut klinischer Relevanz ist die Differentialdiagnose zwischen einem deliranten Syndrom (mit hohen Prävalenzzahlen: ca. 25% der hospitalisierten Krebspatienten, 30 bis 40% der hospitalisierten Aids-Patienten und ca. 50% der Patienten nach operativen Eingriffen) und einer inzipienten Demenz: Ein wichtiges Kriterium ist die Bewusstseinshelligkeit, die bei dementen Menschen nicht beeinträchtigt ist. Auch die FIuktuation der Symptomatik wird bei dementen Patienten üblicherweise nicht gefunden, es sei denn, eine Verwirrtheit manifestiert sich im Rahmen einer vorbestehenden Demenz (Tab. 4).
Verlaufskomplikationen: Nicht zu unterschätzende Verlaufskomplikationen sind Störungen des Elektrolyt- und Flüssigkeitshaushaltes, v. a. durch Exsikkose und Störungen der Nahrungsaufnahme. Häufige Komplikationen sind Sturzverletzungen und Frakturen, an deren Zustande – kommen motorische Agitiertheit, Orientierungsstörungen und Verkennungen maßgeblich beteiligt sind. Die Mortalität in solchen komplexen Fällen beträgt bis zu 25%. Festzuhalten ist, dass es bei depressiven Ausformungen hirnorganischer Syndrome (die entsprechende Diagnostik und vor allem eine Betreuung durch speziell ausgebildetes Personal bedingen!) zur suizidalen Einengung und unter den entsprechenden Voraussetzungen auch zur Selbsttötung kommen kann.
Therapie Sämtliche therapeutische Interventionen sollten dem biopsychosozialen Konzept folgen und orientieren sich an der zeitlichen Struktur des Notfalles (perakut), der Krisenbewältigung (akut, subakut) und der etwaigen Langzeitbehandlung (subchronisch, chronisch) (Tab. 5).

Notfall und Krise

Gegebenenfalls wird bereits die Akutdiagnostik zusammen mit den erhobenen anamnestischen oder explorativen Daten eine Indikation zu einer akuten oder sogar Notfallintervention liefern. Solche Indikationen ergeben sich beim Vorliegen von Hypoxämien, Hypoglykämien und Hypoperfusionen, akuten metabolischen Störungen, akuten intrakraniellen Raumforderungen oder intrakraniellen lnfekten, bei Intoxikationen, Medikamentennebenwirkungen, bei der “Wernicke-Encephalopathie” und bei schweren körperlichen lnfektionskrankheiten.
Diese Notfälle indizieren spezifische Interventionen, welche im Einzelfall und abhängig von der zugrundeliegenden Primärstörung nach deren Behandlung eine Therapie der psychischen Störung manchmal nicht mehr notwendig machen. Häufig wird jedoch die Behandlung der Grundstörung bzw. des Auslösers der psychischen Veränderung nicht ausreichen, um eine rasche Rekompensation der Hirnleistungsfähigkeit zu gewährleisten.
Prophylaktische Maßnahmen: Nur bei ausreichender Bewusstseinshelligkeit und ausreichendem Allgemeinzustand ist eine orale Behandlung indiziert. In jedem Fall sind prophylaktische Maßnahmen (Lungenentzündung, Dekubitus, Thrombose, Infektionsquellen – parenterale Leitungen) zu treffen. Da bei den Betroffenen Störungen der Informationsaufnahme und -verarbeitung, also der Orientierung und des zielgerichteten Handelns sowie Bewusstseinsstörungen, pathognomische Symptome sind, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Kranken stets dazu fähig sind, ihre persönlichen Bedürfnisse zu äußern; dieses betrifft ganz besonders die Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme. Gerade deshalb kommt pflegerischen Maßnahmen bzw. einer ausführlichen Schulung des Pflegepersonals besonders große Bedeutung zu. Dem Patienten muss aktiv und immer wieder bei der Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme geholfen werden, alleiniges Erinnern genügt oft nicht, um eine ausreichende Zufuhr zu gewährleisten! Aus dem gleichen Grund sind Ein- und Ausfuhr-Dokumentation, die Kontrolle der Vitalparameter, gegebenfalls mehrfaches Umlagern, Sichern im Bett und Schutz vor Herausfallen, aber auch vor Überklettern von Steckgittern unumgängliche Maßnahmen, die sehr oft vor zusätzlichen Komplikationen wie z. B. Frakturen bewahren oder lebensrettend sind. Ebenfalls sehr hilfreich sind einige Orientierungshilfen: gut lesbare Uhren, Kalender oder Türbeschriftungen sind Signale, die die Rekompensation beschleunigen.
Physische Restriktionen können bei stringenter Indikation, klarer Dokumentation und unter den entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen zeitweilig notwendig werden. Bei allen Patienten mit hirnorganisch begründbaren Psychosen ist wegen der Störung des Realitätsbezuges ein häufiger direkter therapeutischer und pflegerischer Kontakt notwendig, um Veränderungen oder Verlaufsbesonderheiten möglichst umfassend beobachten zu können. Ganz besonders gilt dies für motorisch agitierte, unruhige Patienten: Bei dieser Patientengruppe stellt die Gratwanderung zwischen ausreichender Sedierung zur Vermeidung schwerer, tödlicher Erschöpfungszustände einerseits und andererseits die Vermeidung der völligen (motorischen) Dämpfung und der daraus resultierenden Gefahren (z. B. der hypostatischen Pneumonie) eine besondere therapeutische Herausforderung dar. Dazu ist festzuhalten, dass es die Aufgabe von Fachabteilungen ist, mit den besonderen Herausforderungen komplexer fachspezifischer Probleme konfrontiert zu sein und die für den Betroffenen schonendste und bestmögliche Behandlung zu praktizieren.
Problembezogen bedeutet dies, dass eine Differenzierung zwischen leichter oder schwerer Erkrankten vorzunehmen wäre, letztere Gruppe von routinierten ärztlichen wie pflegerischen Mitarbeitern zu versorgen und zu betreuen sind und der therapeutisch oft notwendige Schlaf und die Ruhe der anderen Patienten kein Grund sein dürfen, im Einzelfall Sedierungen mit riskanten Folgen durchzuführen.
Hier sind auch bauliche Voraussetzungen nötig, die gerade bei solchen kritischen Patienten ein gewisses Ausmaß an Aktivität und Bewegung zulassen, ohne dass Mitpatienten über Gebühr gestört werden und ohne dass die Schwerkranken einer direkten Beaufsichtigung und Intervention entzogen würden!

resümeeOrganische Psychosen sind häufig; ihre Ursachen sind mannigfaltig und selten linear mit der Psychopathologie in Verbindung zu bringen. Patienten mit diesen neuropsychiatrischen Störungen erfordern nebst einer raschen, klinisch-relevanten und patientenfreundlichen Diagnostik, Angebote multidisziplinärer Behandlungskonzepte, welche dem biopsychosozialen Modell folgen und Notfall- und Krisensituation genauso Rechnung tragen wie potentiellen Langzeitverläufen. Das Risiko von transienten akuten psychoorganischen Störungen und die Entwicklung einer Chronifizierung sollten so rasch wie nur möglich identifiziert werden, um schon im Vorfeld spezifische Präventionen anzubieten und um den sich über die Zeit ändernden Bedürfnissen von Patienten und Angehörigen gerecht zu werden

Weiterführende Literatur:
1) Berger M, Psychische Erkrankungen Klinik und Therapie; 2009 (Demenz-Diagnose 266-268, 280-286, Verlauf 270-274, Epidemiologie 279-280, Therapie 286-294, Delir – Definition, Diagnostik, Therapie 327-336)
2) Carota A, Berney A, Aybeck S et al., A prospective study of predictors of poststroke depression Neurology 2005; 6:428-433
3) Chen Y, Patel NC, Zhen S, Antidepressant prophylaxis for poststroke depression:a meta analysis. Int Clin Pschychopharmacol 2007; 22:159-166
4) Kasper S, Volz H S, Psychiatrie und Psychotherapie; 2009 (Delir 59-62, Organische Erkrankung, die gehäuft mit psychischen Störung einhergeben 67-70)
5) Kronenberg G, Kathanov J, Endres M, Poststroke Depression, Klinik, Epidemiologie, Therapie, Pathophysiologische Konzepte: Nervenarzt 2006; 77, 1176-1185
6) Moeller, Laux, Kapfhammer (Hg.), Psychiatrie Psychosomatik Psychotherapie; 2011 (Delir 20-29)