EAU-Leitlinien: Von der wissenschaftlichen Erarbeitung zur klinischen Anwendung

Das Leitlinienprojekt der Europäischen Urologengesellschaft (EAU) startete im Jahr 1996 unter dem Namen EAU Health Care Office. Erster Vorsitzender dieses Büros war von 1996 bis 2003 Detlef Frohneberg aus Karlsruhe. Seine Nachfolger waren von 2003 bis 2008 Gunnar Aus von Göteborg und seit 2008 Keith Parsons aus Liverpool. Anlässlich des Jahreskongresses der EAU 2000 in Brüssel erschienen die ersten publizierten Leitlinien zum Blasenkarzinom, Nierenzellkarzinom und Peniskarzinom sowie zur erektilen Dysfunktion und zu Ejakulationsstörungen. Heute werden vom EAU Guidelines Office 21 verschiedene Leitlinien erarbeitet, die das ganze Spektrum der Urologie abdecken und in folgenden Formaten erscheinen: als lange Version in einem Buch mit knapp 1.300 Seiten, als Kurzfassung in einem Taschenbuch, als Artikel in der Zeitschrift European Urology (Eur Urol) und in elektronischer Form auf CD-ROM und via UROWEB (Abb. 1). Die mehr als 12.000 Mitglieder der EAU haben freien Zugang und die Leitlinien sind überdies in 20 weitere Sprachen übersetzt.

Material und Methoden: Der Vorstand des Leitlinienbüros führte in den Jahren 2005 und 2009 jeweils eine Umfrage bei den EAU-Mitgliedern durch. Ziel der Studie war es, den Stand der Implementierung zu erfassen und zu erfahren, wo Verbesserungspotenzial besteht. Dazu wurden 16 Fragen via EAU-Website an die Mitglieder verschickt, mit den folgenden Bereichen: allgemeine Informationen zum Befragten, Bekanntheitsgrad der Leitlinien, Kenntnisse der verschiedenen Publikationsformate, Häufigkeit des Gebrauchs und Einstellung des Befragten gegenüber den Leitlinien.

Ergebnisse: Von den 2.371 auswertbaren Antworten kamen 603 von Assistenzärzten in Weiterbildung (25 %) und 1.768 von Fachärzten (75 %). Die meisten Antwortenden waren zwischen 31 und 40 Jahre (41 %) respektive zwischen 41 und 50 Jahre (27 %) alt. Ein Drittel war an einer Universitätsklinik, die Hälfte an einem öffentlichen Krankenhaus und 13 % in einer Privatpraxis beschäftigt.
Im Jahr 2009 waren sich 97 % der Antwortenden bewusst, dass EAU-Leitlinien existierten. In der vorangegangenen Umfrage von 2005 war der Bekanntheitsgrad bei Assistenzärzten und jüngeren Urologen etwas geringer gewesen. Das bevorzugte Publikationsformat war elektronisch (47 %), vor der langen Version im Buch (24 %), dem Taschenbuch (22 %) und dem Artikel in Eur Urol (4 %). Die häufigsten Zugriffe betrafen das Prostatakarzinom, das nichtmuskelinvasive Blasenkarzinom, das Nierenzellkarzinom und das muskelinvasive Blasenkarzinom (Abb. 2). Am seltensten benutzt wurden die Leitlinien zur Nierentransplantation, zur allgemeinen Schmerzbehandlung, zu den neurogenen Symptomen des unteren Harntraktes und zum Peniskarzinom. Über 80 % der befragten Urologen übernehmen entweder die meisten oder sogar alle Empfehlungen der Leitlinien in ihren klinischen Alltag. Dies bedeutet eine Zunahme von 20 % gegenüber den (unpublizierten) Daten von 2005. Mangelnde Zeit und eine hohe Arbeitsbelastung wurden als die beiden Hauptgründe für die Nichtberücksichtigung der Leitlinien angegeben.

Diskussion: Die Leitlinien der EAU haben in den letzten 15 Jahren eine rasante Entwicklung durchgemacht. Nach zögerlichem Beginn haben sie inzwischen weltweit sicherlich den größten Bekanntheitsgrad unter allen existierenden Leitlinien erlangt. Sie formen die Basis für die Weiterbildung von Nachwuchsurologen in den meisten europäischen Ländern und bis weit nach Zentralasien (Kasachs tan, Usbekistan) hinein. Sie sind Grund lage für die zahlreichen Kurse der Europäischen Schule für Urologie (ESU) und ein wesentlicher Grund dafür, dass die Zeitschrift Eur Urol zum führenden urologischen Printmedium mit einem Impact Faktor von über 7 geworden ist. Die Leitlinie zum Prostatakarzinom beispielsweise ist der am häufigsten zitierte Artikel in der urologischen Literatur überhaupt.
Im Gegensatz zu den rigoros erarbeiteten Leitlinien der Amerikanischen Urologengesellschaft (AUA) und der Cochrane Collaboration Group, die einen enormen personellen und finanziellen Aufwand betreiben, bezeichnen sich die EAU-Leitlinien als „Evidence-based medicine (EBM) light“. Folgende Charakteristika zeichnen sie aus: sie sind vollkommen unabhängig von staatlichen Organisationen und von der Industrie. Eigenheiten der heterogenen Gesundheitssysteme der ca. 46 verschiedenen Länder können nicht spezifisch berücksichtigt werden. Ökonomische Aspekte werden bewusst nicht angesprochen, ebenso wenig werden Patientenorganisationen einbezogen. Eine formale externe Validierung fehlt, es erfolgt aber ein peer review durch andere EAU-Mitglieder mit anerkannter Expertise im jeweiligen Themenbereich.

Take Home Message

Die EAU-Leitlinien haben eine hohe Akzeptanz bei den Mitgliedern der EAU (und darüber hinaus). Der Umsetzungsgrad von 80 % von der wissenschaftlichen Erarbeitung zur klinischen Anwendung ist gut, könnte in Zukunft aber noch verbessert werden.
Am häufigsten werden Leitlinien zu uroonkologischen Themen konsultiert.

1 Aus G et al., Eur Urol 2009; 56:859–64
2 Heidenreich A et al., Eur Urol 2011; 59:61–71
3 Mitropoulos D et al., Eur Urol Today 2009; 21:10–1