Non-Compliance: Fallstrick in der Diabetologie

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert „Compliance“ als „Ausmaß, in dem das Verhalten eines Patienten in Bezug auf Arzneimitteleinnahme, Befolgen eines Ernährungsplanes oder Anpassung seiner Lebensweise mit den Empfehlungen eines Heilberuflers übereinstimmt“. Da nach heutigen ethisch-medizinischen Grundsätzen der Patient im Rahmen seiner Patientenautonomie frei entscheiden kann, wird heute anstelle des Wortes Compliance, das für Sensible einen gewissen verpflichtenden bis befehlenden Touch birgt, das Wort „Adherence“ verwendet. Es soll die Freiwilligkeit des Commitments des Patienten unterstreichen, d. h., es setzt im Unterschied zur Compliance dessen informiertes Einverständnis voraus. Es handelt sich also bei der Compliance sive Adherence um die Bereitwilligkeit zur Konformität mit medizinischen Anforderungen, wie dies auch für staatliche Gesetze, Regeln, Spezifikationen, Grundsätze, Verfahren, Standards und Konventionen gilt, die alle das Leben in einer Gemeinschaft erst ermöglichen.
Compliance/Adherence sollte nach medizinischer Ansicht Grundlage für eine evidenzbasierte, ergo erfolgreiche Therapie und damit Garant für eine gesenkte Mortalität, verringerte Komplikationsrate und erhöhte Lebensqualität sein.

Häufigkeit der Non-Compliance

Demgegenüber zeigen Studien, dass bestenfalls 50 % der Patienten eine verordnete Langzeittherapie einhalten. Selbst bei nach medizinischer Ansicht als wesentlich erachteten Medikamenten in der Onkologie sind bereits nach 3 Monaten 30 % der Patienten Non-Complier. Dies wurde z. B. für die Einnahme von Aromatasehemmern bei adjuvanter Chemotherapie des Mammakarzinoms gezeigt (Hadji­ et al., Frauenarzt 2007). Wir müssen davon ausgehen, dass analog zu diesen in der Onkologie erhobenen Daten gleiche Probleme auch für Langzeittherapien im Rahmen chronischer Krankheiten wie Diabetes, Hypertonie und Osteoporose bestehen. Fehlende Compliance führt zu mehr Rezidiven und Krankenhausaufenthalten, weshalb z. B. für die USA bis zu 10 Milliarden Dollar pro Jahr als Folgekosten fehlender Therapietreue geschätzt wurden. Aufgrund der Probleme in der präzisen Erfassung der unpräzise definierten Non-Compliance sind Studienergebnisse rar und – sofern vorhanden – schwer zu interpretieren.
Es fällt auf, dass im Rahmen wissenschaftlicher Diabetesstudien wesentlich bessere Ergebnisse als im klinischen Alltag gefunden werden. So beträgt die HbA1c-Absenkung in kontrollierten Studien bei Einsatz von Sulfonylharnstoffen, Metformin oder Insulin jeweils rund 2 %, in der Realität des klinischen Alltags aber nur 1 %. Ursache für diese Halbierung des Effektes könnte die Non-Compliance sein. Dass die Compliance hinsichtlich der Einhaltung von Ernährungsrichtlinien und Maßnahmen zur körperlichen Ertüchtigung noch schlechter ist als die Einnahme von Medikamenten, zeigt leidvoll der klinische Alltag der Diabetologie.

Formen der Compliance

Abhängig von der Definition und Erfassung der Compliance geht man bei Einhaltung von ärztlichen Verordnungen zu über 80 % von guter Compliance aus. Eine Form der Compliance stellt die korrekte Einnahme der Medikamente über den Tag dar („quality of execution“), während die Aufrechterhaltung der Einnahme über eine längere Frist als „persistence“ bezeichnet wird. Beeindruckend bedrückend ist in diesem Zusammenhang, dass selbst bei anzunehmend hoher Motivation, wie bei der Pilleneinnahme bei Teenagern, mehr als 50 % derselben zugeben, während eines ­Zyklus mindestens dreimal die Pilleneinnahme zu vergessen.
Die Wissenschaft kennt eine intelligente Non-Compliance, bei der Patienten z. B. aufgrund des Auftretens von Nebenwirkungen oder aus ihrer Sicht fehlender Indikation die Medikation selbstständig absetzen. Andere Patienten nehmen ihre Medikamente nur kurzfristig vor dem nächsten Arztbesuch ein („white coat compliance“), wieder andere beschaffen sich zwar die Medikation, werfen sie aber weg („medication dumping“) oder vergessen, ihre Medikamente auf Reisen mitzunehmen („drug holidays“). Die häufigste Form der Non-Compliance ist die erratische, bei der Medikamente einfach vergessen oder aus Desinteresse überhaupt abgesetzt werden.

Ursachen mangelnder Compliance

Die Ursachen sind zahlreich (Tab.). So reduzieren Patienten bei komplexen Verordnungsschemata häufig die Einnahme ihrer Medikamente. Wechselnde Dosierungsintervalle sind für Patienten verwirrend und daher Ursache für Non-Compliance, weiters unbequeme Einnahmezeitpunkte, die die Patienten von einer regelmäßigen Einnahme der Medikamente abhalten. Schwierige Applikationsarten sind ebenso hinderlich wie die Verordnung zahlreicher Medikamente. Nicht nur, dass aus pharmakologischer Sicht bei Verordnung von mehr als fünf Medikamenten deren Interaktionen nicht mehr vorhersehbar sind, ist therapeutische Polypragmasie ein wesentlicher Grund für Patienten, manche verordnete Medikamente wahl(un)weise wegzulassen. Besondere Ursachen für schlechte Compliance sind notwendige Umstellungen der Lebensgewohnheiten, die von Patienten ohne entsprechende ärztliche Aufklärung gerne ignoriert werden.
Ein spezielles Problem liegt in der Langzeittherapie, da Patienten – wohl zur Freude des Kostenträgers – oft davon ausgehen, dass nach Einnahme aller Tabletten einer Medikamentenschachtel ihr medizinisches Problem auf Dauer beherrscht ist. Auch das Auftreten von (angenommenen) Nebenwirkungen hält viele Patienten davon ab, Medikamente langfristig einzunehmen. Zum Teil sind daran auch die überbordend detaillierten Beipackzettel schuld, welche die Meinung kritischer Patienten mitbeeinflussen dürften. Nachgewiesen ist darüber hinaus, dass ungenügend organisierte Betreuung und das Aufsuchen zahlreicher Ärzte die Compliance beeinträchtigen. Hierzu zählt auch schlechte Kommunikation des betreuenden Personals mit dem Patienten.
In manchen Ländern, in denen Medikamentenkosten von den Patienten selbst zu tragen sind, bedingen diese ebenfalls eine eingeschränkte Therapietreue. Auch schlechtes soziales Netzwerk und mangelnde ärztliche Überwachung reduzieren die Therapietreue. Ist für den Patienten der Grund für die Einnahme eines Medikamentes nicht klar ersichtlich, fehlt der Leidensdruck oder glaubt der Patient selbst nicht an den Therapienutzen, dann schränkt dies naturgemäß die Compliance ein.
Fraglos reduziert in vielen Fällen hohes Alter („medication duplication“!) die Compliance und im psychiatrischen Bereich ist fehlende Therapietreue ein Alltagsproblem. In einer Studie von Col et al. (Arch Intern Med 1990) war bei über 10 % der stationär aufgenommenen älteren Patienten Non-Compliance mit der Medikationsverordnung für die Krankenhauseinweisung verantwortlich.

 

 

Messung der Compliance

Wesentlich erscheint daher eine laufende Überprüfung der Compliance, wobei nur wenige praktikable Messmethoden zur Verfügung stehen. Am sinnvollsten wäre natürlich eine direkte Messung der Compliance durch „drug monitoring“, wie es meist unter stationären Bedingungen zur Überprüfung nebenwirkungsreicher Therapien üblich ist und eher der Therapiesteuerung als der Überprüfung der Therapietreue dient. Praktisch einsetzbare direkte Messungen der Compliance sind jene der Bestimmung biologischer Marker. Beispiele hiefür sind jene der INR-Bestimmung zur Überprüfung und Steuerung der Kumarintherapie oder die Erfassung des HbA1c zur Überprüfung der Therapietreue bei Diabetes. Besteht im Falle von Kumarinen zumindest durch Messung eines biologischen Markers die Möglichkeit der Überprüfung der Therapieeinnahme, so wird diese bei zukünftigen gerinnungsaktiven Alternativen ohne notwendige Laborkontrolle, wie z. B. der Langzeittherapie mit Thrombin- oder Faktor-Xa-Inhibitoren bei Vorhofflimmern, nicht möglich sein; dies wird daher fast vorhersehbar zu einem dramatischen medizinischen Problem in der effektiven Langzeittherapie dieses Patientenkollektivs führen müssen.
Wegen dieser Schwierigkeit der direkten Messung der Compliance und angesichts der Unverzichtbarkeit der Überwachung der Therapietreue wurden indirekte Methoden entwickelt. So kann mittels elektronischer Überprüfung der Ta­blettenentnahme aus eigens präparierten Medikamentenschachteln („medication event monitoring systems“, MEMS) zumindest erfasst werden, ob Medikamente entnommen wurden. Diese bei klinischen Studien angewandte Methode lässt jedoch keinen Rückschluss auf die tatsächlich erfolgte Einnahme zu. Eine simple, aus Zeitgründen aber sicher wenig geübte Methode wäre das Zählen der restlichen Tabletten beim Arztbesuch. Eine relativ gute, aber nicht individuelle Kontrolle der Compliance kann über die Erfassung des Medikamentenbezuges durch Analyse von Apothekenverordnungsdaten – auch unter der Annahme, dass manche Patienten in anderen Regionen Rezepte einlösen – erfolgen. Leider wissen wir, dass bei Patientenbefragungen durch Selbstdeklaration, z. B. im Rahmen einer Fragebogenerhebung, unkritisch eine gute Compliance angenommen wird; die Analyse von Apothekenverordnungsdaten, d. h. Erfassung jener Medikamente, die per Rezept auch wirklich eingelöst wurden, zeigt jedoch eine dramatisch schlechtere „wahre“ Compliance. Das ist eine schlechte Nachricht für betreuende Ärzte!

Diabetesstudien zur Compliance

Zur Frage der Therapietreue bei Diabetes mellitus wurden kontrollierte Studien durchgeführt. Unter der arbiträren Festlegung einer guten Compliance bei mehr als 80%iger Therapietreue konnte bei Typ-2-Diabetikern erhoben werden, dass bezüglich Diätempfehlungen 62 % der Patienten non-compliant waren, im Falle sportlicher Aktivitäten 85 % (ich wollte, 15 % meiner Patienten würden sich bewegen!), bei Einnahme oraler Antidiabetika 17 % und hinsichtlich Insulinapplikation immerhin 13 %. Im Durchschnitt erwiesen sich Patienten hinsichtlich der Einhaltung aller erhobenen Parameter in 39 % als non-compliant (Hernández-Ronquillo et al., Salud Publica Mex 2003). Die hohe Non-Compliance-Rate insbesondere bezüglich Diät und Exercise ist jedenfalls erschütternd.
Eine andere Arbeit (Cerkoney & Hart, Diabetes Care 1980) untersuchte 30 insulinpflichtige Typ-2-Diabetiker in den USA 12 Monate nach Schulung in einem Gemeindespital. In dieser Arbeit wurden 45 von den Autoren für wesentlich erachtete Faktoren in der Diabetesbetreuung – darunter Insulinadministration, Harntestung, Diät, Hypomanagement sowie Fußpflege – untersucht und eine Compliance von durchschnittlich 59 % gefunden. Insgesamt waren nur 7 % der Patienten in allen 45 untersuchten relevanten Parametern der Diabetesbetreuung compliant.

Maßnahmen zur Compliance-Steigerung

Es wurden von vielen Seiten Möglichkeiten zur Verbesserung der Therapietreue vorgeschlagen. Wichtigste Instrumente sind sicherlich Schulung und Information, wie z. B. im Falle von Diabetesschulungsprogrammen. Zweifelsohne stellt eine Verhaltensbeeinflussung durch einen guten Arzt-Patienten-Kontakt ein wesentliches Instrument zur Verbesserung der Compliance dar. Auch die Monitorisierung von biologischen Markern wie HbA1c sind in Anbetracht nicht validierbarer Blutglukosetagebücher dazu angetan, Patienten zur Therapietreue zu motivieren. Zweifelsohne stellt aber eine Vereinfachung des Therapieschemas einen wesentlichen Teil zur Compliance-Erhöhung dar. Um bei entsprechender Indikation eine hohe Compliance zu erzwingen, kann die Medikamenteneinnahme durch Beobachtung kontrolliert werden, wie dies z. B. im Rahmen von Drogenentzugsprogrammen bzw. der Einnahme von Tuberkulostatika geschieht.
Die Annahme, dass die einmalige Gabe (z. B. einmal pro Woche im Vergleich zu täglicher Einnahme) eine Erhöhung der Compliance bringt, dürfte zwar richtig sein, der Erfolg ist jedoch ein enden wollender. So konnte bei wöchentlicher Einnahme von Alendronat (Bisphosphonat im Rahmen einer Metastasentherapie) gezeigt werden, dass sich die langfristige Compliance im Vergleich zur täglichen Einnahme von 30 % auf knapp 50 % verbessern ließ.
Gerade im Bereich der Diabetologie sind extrem komplizierte, von den Fachgesellschaften abgesegnete Leitlinien mit Mehrfachtherapien mit bis zu 4 verschiedenen antidiabetisch wirksamen Substanzen sicher nicht dazu angetan, die Compliance unserer Patienten zu erhöhen.
Allen Compliance-Programmen ist gemeinsam, Verständnis für therapeutische Maßnahmen und deren positiven Effekt auf Gesundheit und Lebensqualität zu vermitteln.