Damit den Worten Daten folgen – die Codierung im Zentrum der Digitalisierung

Österreich wird die verpflichtende Diagnosecodierung im niedergelassenen Bereich einführen, Wahlärzt:innen inklusive. Die Frage ist nur, wann und wer bei der konkreten Umsetzung den Ton angibt.

Während künstliche Intelligenz, Nanotechnologie und Robotik so gut wie niemanden kaltlassen, fristet das Thema Codierung in der öffentlichen Wahrnehmung eher ein Schattendasein. Dabei läuft ohne die Übersetzung von Diagnosen und Beratungsanlässen in die Codes einer einheitlichen Klassifikation kaum etwas in der Digitalisierung. „Ohne Codierung keine Daten, kein in den Workflow integrierter Decision Support und ganz generell keine sinnvolle Entwicklung von e-Health-Anwendungen“, betont Dr. Helmut Dultinger. Der Allgemeinmediziner ist innerhalb der Österreichischen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM) federführend für das Thema Diagnosecodierung zuständig und weiß um den Benefit, aber auch um die möglichen Fallstricke, die damit verbunden sind. „Derzeit werden in unterschiedlichen Settings unterschiedliche Klassifikationen verwendet. Um Daten vergleichen zu können, müssen die Codes untereinander ‚übersetzbar‘ sein, ohne dass dabei wesentliche Information verloren geht“, so Dultinger. Gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Christoph Powondra von der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften (KL) in Krems hat Dultinger eine Datenbank entwickelt, die ein Mapping, also eine Übersetzung von einer Klassifikation in die andere ermöglicht.

Stein von Rosetta für die Medizin

Dieses Tool – als Webversion und als Applikation zur Einbindung in die Praxissoftware programmiert – soll es den Ärzt:innen ermöglichen, nach Belieben zwischen den verschiedenen Codierungssystemen zu wechseln – quasi als Stein von Rosetta für die Medizin. Tatsächlich sind in Österreich derzeit nicht weniger als drei Codierungssysteme in zum Teil unterschiedlichen Versionen in Verwendung. Da ist z. B. der vor allem im Spital im Einsatz befindliche ICD-10, der spätestens im Jahr 2027 von seinem Nachfolger, dem ICD-11 abgelöst wird und der die Grundlage für die Leistungsabrechnung mit der Sozialversicherung bildet.


DOCTOR’S PERSPECTIVE

„Derzeit codieren wir in unserer Ordination nicht – ich sehe im Verhältnis zum Aufwand, den das unter den aktuellen Rahmenbedingungen verursachen würde, auch kaum einen Nutzen darin.“

Dr.in Birgit Angel
Ärztin für Allgemeinmedizin


Die ICPC-2, die International Classification of Primary Care, wurde von der WONCA, der World Organisation of Family Doctors entwickelt und steht den österreichischen Hausärzt:innen und Primärversorgungseinheiten über eine Lizenzvereinbarung zwischen WONCA und ÖGAM für die ambulante Dokumentation zur Verfügung. Auch sie hat mit der ICPC-3 bereits eine Nachfolgerin in den Startlöchern. Und da ist schließlich noch der sogenannte SNOMED CT, quasi der Mercedes unter den Klassifikationen. SNOMED CT, die Abkürzung steht für Systematized Nomenclature of Medicine Clinical Terms, ist eine der weltweit bedeutendsten medizinischen Terminologien, mit mehr als 311.000 eindeutigen, hierarchisch angeordneten Begriffen. Österreich hält über das Bundesministerium für Gesundheit und Soziales eine sogenannte „Republikslizenz“. Dies bedeutet, dass SNOMED CT von allen Akteur:innen im Gesundheitswesen kostenfrei genutzt werden kann – theoretisch. Praktisch gesehen ergibt das natürlich nur Sinn, wenn die Terminologie in der jeweiligen Arztsoftware hinterlegt und von den relevanten Systempartnern tatsächlich ausgelesen wird.

Ärztekammer warnt vor fehlerhaften Daten

Genau diesen Punkt, also die rasche praktische Umsetzbarkeit, sieht Prof. Dr. Dietmar Bayer, Vizepräsident der Steirischen Ärztekammer und selbst niedergelassener Allgemeinmediziner und Facharzt für Psychiatrie, skeptisch. Zwar räumt auch er der Übersetzbarkeit der verschiedenen Codierungssysteme einen großen Stellenwert ein, ihr seien jedoch aufgrund der unterschiedlichen Ausrichtungen der eingesetzten Klassifikationen Grenzen gesetzt. „Der ICD-10 ist an sich nichts für die Niederlassung, weil er nur das Ende des diagnostischen Prozesses abbildet. Der ICP-2 ist in dieser Hinsicht geeigneter, weil er eine syndromale, also geclusterte Codierung ermöglicht und damit die im niedergelassenen Bereich oftmals bestehende Unschärfe berücksichtigt“, so Bayer. SNOMED CT wiederum bilde jeden Zustand eines Prozesses ab. „Das brauchen wir, damit wir in Zukunft die Möglichkeit der strukturierten Dateneingabe haben.“

Die Frage, welche Klassifikation letztlich verwendet wird, ist für Bayer nicht abschließend beantwortet. Die Festlegung der Gesundheitskonferenz auf die verpflichtende Codierung auch im niedergelassenen Bereich hält er für wichtig, aber: „Wenn wir fehlerhafte Daten produzieren, haben wir eine fehlerhafte Steuerung.“ Zudem ist nach Ansicht von Bayer nicht geklärt, was mit den Daten passiert. Keinesfalls dürfe die Codierung mit der Abrechnung verknüpft sein. Dies schaffe ein ökonomisches Bias bei der Dokumentation und damit völlig falsche Anreize. Bayer betont jedenfalls, dass die Österreichische Ärztekammer der Codierung grundsätzlich positiv gegenübersteht. Immerhin habe man ja bereits im PVE-Gesetz der verpflichtenden Codierung zugestimmt. Allerdings sei noch völlig offen, wer denn der optimale Träger für das Gesamtprojekt Codierung wäre. Succus der Standesvertreters: „Wir sind noch nicht in der Lage, die Codierung als Projekt aufzuziehen.“

If you can’t measure it, you can’t manage it

Für a.o. Univ.-Prof. Dr. Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), ist die Frage, wo die Daten gesammelt werden, weniger bedeutsam als die Frage, wie man die Nutzung dieser Daten ermöglicht und für welche Zwecke. So sei es etwa möglich, über die Erfassung der Diagnosedaten Qualitätsroutinen laufen zu lassen und dafür zu sorgen, dass das System anhand dieser Routinen lernt. „Ich bin der Meinung, dass alle maßgeblichen Akteur:innen, die mit Steuerung zu tun haben, und natürlich auch die Wissenschaft einen geregelten Zugang zu diesen Daten bekommen sollten“, so Ostermann. Vor allem komplette Datensets, bei denen die Spitalsdaten mit den Leistungs- und pro futuro hoffentlich auch Diagnosedaten aus dem niedergelassenen Bereich verknüpft werden, erlauben es, typische Patientenkarrieren zu beobachten. „Damit bekommen wir einen Eindruck, ob bestimmte Patientengruppen gut versorgt sind, und können daraus Verbesserungen ableiten.“

Ähnlich sieht das auch Andreas Huss, Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse: „Mit den Daten der Diagnosecodierung können wir große Fortschritte bei der Versorgungsforschung und der Versorgungsplanung einläuten. Wir können endlich ersehen, welche Ausbreitung und Verteilung bestimmte chronische Krankheiten haben und welche Behandlungen bzw. Medikationen am besten wirken.“ (Siehe Interview auf Seite30.)

Entscheidungshilfen kein Ersatz fürs Denken

Ob es gelingt, den Schatz der Gesundheitsdaten tatsächlich zu heben, um ihn zum Nutzen der Allgemeinheit einzusetzen, hängt jedoch letztlich von jener Berufsgruppe ab, die einen Großteil dieser Daten in ihrer täglichen Arbeit generiert – den Ärzt:innen. Und hier herrscht aufgrund der bisher mit der Digitalisierung gemachten Erfahrungen naturgemäß Skepsis. „Derzeit codieren wir in unserer Ordination nicht – ich sehe im Verhältnis zum Aufwand, den das unter den aktuellen Rahmenbedingungen verursachen würde, auch kaum einen Nutzen darin“, betont Dr.in Birgit Angel, die gemeinsam mit ihrer Kollegin Dr.in Leonie Peter eine allgemeinmedizinische Gruppenpraxis im 10. Wiener Bezirk betreibt. „Allerdings wäre es natürlich schon gut, einfache Statistiken zu machen: Welche Patient:innen kommen zu uns, wie viele Wunden versorgen wir in einem bestimmten Zeitraum, wie viele Diabetiker:innen oder Patient:innen mit einem respiratorischen Infekt haben wir in einer bestimmten Periode?“ Auch die Verknüpfung der Diagnosen mit einem in den Workflow integrierten Decision-Support-System wäre natürlich gut, meint die Allgemeinmedizinerin, räumt jedoch ein: „Solch ein Tool sollte auf keinen Fall das Denken ersetzen!“


„Ohne Codierung keine Daten, kein in den Workflow integrierter Decision Support und ganz generell keine sinnvolle Entwicklung von e-Health- Anwendungen.“

Dr. Helmut Dultinger
Arzt für Allgemeinmedizin


Lösungsansatz „automatisches Codieren“

Dultinger und Powondra sind sich natürlich bewusst, dass der Vorgang des für das Gesamtsystem so wichtigen Datengenerierens für den/die einzelne:n Ärzt:in nicht nur mit konkreten Anreizen verknüpft, sondern auch mit so wenig Aufwand wie möglich verbunden sein sollte. Das von ihnen im Auftrag von ÖGAM und Karl Landsteiner Privatuniversität erstellte Tool unterstützt deshalb auch einen Vorgang, den die beiden als „automatisches Codieren“ bezeichnet haben. Der/Die Ärzt:in kann wie gehabt seine/ihre Diagnose oder den jeweiligen Beratungsanlass in ein Freifeld eintragen, und die damit verknüpften Codierungen in den Systemen ICPC-2 und -3, ICD-10 und SNOMED CT werden automatisch zugespielt. Damit dies funktioniert, haben die beiden Mediziner Begriffe aus dem englischsprachigen SNOMED CT übersetzt und dabei immer die klinische Wirklichkeit von in der Primärversorgung tätigen Allgemeinmediziner:innen im Hinterkopf behalten. Bisher konnten 12.500 Begriffe in der Datenbank den Codierungssystemen zuordnet werden. Voraussetzung für eine effiziente Nutzung ist wiederum die Integration des Programms in die jeweilige Praxissoftware, ein Vorgang, der bei der Programmierung der Applikation natürlich mitgedacht wurde.

Die Allgemeinmedizin im Lead

Für Dr.in Susanne Rabady, Präsidentin der ÖGAM und Leiterin des Fachbereichs Allgemein- und Familienmedizin der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, werden mit der Kooperation der beiden Einrichtungen, welche die Grundlage des Projektes von Dultinger und Powondra bildet, jedenfalls klare Ziele verfolgt: „Seitens der Universität steht natürlich das Interesse an guten Daten aus der Primärversorgung im Vordergrund, die wissenschaftlich verwertbar sind“, betont Rabady. Seitens der ÖGAM gehe es hingegen primär darum, das Fachgebiet Allgemein- und Familienmedizin besser erfassen und abbilden zu können. Dazu sei es notwendig, darzustellen, was in der hausärztlichen Wirklichkeit passiert. „Ziel wäre es natürlich, diese Daten mit jenen aus dem fachärztlichen Bereich und aus den Spitälern gemeinsam analysieren zu können“, so die Allgemeinmedizinerin. Aus universitärer Sicht ebenfalls wünschenswert wäre es, über die Codierung Decision Support in der Praxis besser anbieten zu können. „Die Kolleg:innen würden damit im Gegenzug zur automatischen Codierung ihrer Tätigkeit eine Art des Wissenstransfers zur Verfügung haben, den sie idealerweise unmittelbar im klinischen Workflow nutzen können.“ Unabhängig von der Frage, wer schließlich welche Daten bekommt, sieht sie die Hausärzt:innen, vertreten durch ÖGAM, und universitäre Allgemeinmedizin jedenfalls ganz klar im Lead, wenn es darum geht, die Qualität der Codierung und der davon abgeleiteten Daten zu gewährleisten. „Wer, wenn nicht wir, soll wissen, wie das gehen kann?“


„Es ist notwendig, darzustellen, was in der hausärztlichen Wirklichkeit passiert.“

Dr.in Susanne Rabady
Ärztin für Allgemeinmedizin, ÖGAM-Präsidentin


Einig sind sich alle Systempartner jedenfalls darin, dass an der validen Vermessung unseres Gesundheitswesens kein Weg vorbeiführt. Schon Aristoteles hat schließlich gemeint: „Mathematische Strenge ist nicht in allen Dingen zu fordern, wohl aber in den immateriellen.“ Und damit also aus Wörtern, welche die physische Realität von Patient:innen beschreiben, immaterielle, aber mess- und interpretierbare Daten werden, braucht es offenbar einen breiten Konsens der wesentlichen Player sowie zuverlässige und smarte Programme, die sich möglichst nahtlos in den Workflow der Ärzt:innen integrieren lassen.