„Die verpflichtende Codierung ist ein von uns lange erwarteter Meilenstein.“

Interview mit Andreas Huss, Dienstnehmervertreter und derzeit turnusmäßig Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse, über den Benefit valider Diagnosedaten für die Gesundheitsversorgung und mögliche nächste Umsetzungsschritte.
Digital Doctor: Die generell verpflichtende Diagnosecodierung nimmt in den Forderungen und Plänen der ÖGK auch in Hinblick auf die weitere Digitalisierung eine zentrale Rolle ein. Was sind die wesentlichen Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung, die Sie von dieser Maßnahme ableiten?
Huss: Mit den Daten der Diagnosecodierung können wir große Fortschritte bei der Versorgungsforschung und der Versorgungsplanung einläuten. Wir können endlich ersehen, welche Ausbreitung und Verteilung bestimmte chronische Krankheiten haben und welche Behandlungen bzw. Medikationen am besten wirken. Mit diesen Möglichkeiten können auch Rückschlüsse bei neuen Krankheitshäufungen erfolgen, die eine schnelle und wirksame Reaktion in der Versorgung ermöglichen. Bestes Beispiel, wie es nicht funktioniert, ist Long COVID. Hier wissen wir bis heute nicht, wie viele Erkrankte wir in Österreich haben und welche Behandlung gut wirkt. Wir haben nur Schätzungen über die Ausbreitung bei der arbeitenden Bevölkerung, die wir über sehr limitierte Krankenstandsdaten bekommen. Bei den Kindern und Jugendlichen sowie bei den Pensionist:innen sind wir komplett blind. Außerdem sollen die Daten in ELGA zur Verfügung stehen, um Diagnosen für alle zukünftigen GDAs des/der Versicherten zugänglich zu machen. So soll eine gute kontinuierliche Betreuung besonders für chronisch Kranke mit guten Behandlungspfaden Realität werden. Hier haben wir derzeit noch große Lücken mit teils großen gesundheitlichen Nachteilen für die Patient:innen. So haben wir sehr hohe Amputationsraten bei den Diabetiker:innen in Österreich, das soll sich in Zukunft rasant verbessern.

 

Digital Doctor: Die Ärztekammer vertritt ja die Position, die Codierung ist wichtig und soll kommen, aber ohne Verknüpfung mit der Abrechnung. Ist ein Verzicht auf diese Verknüpfung aus Sicht der ÖGK denkbar?
Huss: Mit der Abrechnung werden die Diagnosecodierungen jedenfalls verknüpfbar sein müssen, denn nur so können wir auswerten, wie bei welchen Diagnosen behandelt wird. Dabei steht nicht die Kontrollmöglichkeit bei einzelnen Ärzt:innen, sondern der Blick auf die grundsätzliche Behandlungspraxis in der Medizin im Vordergrund. Außerdem ist eine Modernisierung der Leistungserbringung hin zu mehr Pauschalen und Leistungspaketen nur mit einer guten Qualitätsarbeit möglich. Dafür braucht es oft die Diagnose als Ausgangsbasis für die Verrechnung von erbrachten Leistungen.

 

Digital Doctor: Trotz weitgehenden Konsenses, dass die Codierung wichtig ist, um das Potenzial der Digitalisierung zu heben, hat man den Eindruck, dass der Zug recht langsam in diese Richtung fährt. Was braucht es aus Ihrer Sicht, damit es hier zu einer Beschleunigung kommt, und wer wäre für Sie der optimale Träger für das Gesamtprojekt?
Huss: In Digitalisierungsfragen war die Ärztekammer immer ein Bremsklotz. Erinnern wir uns an die e-card-Einführung oder gar an die Gegenkampagne mit den „nackten Patient:innen“ bei der ELGA-Einführung. Transparenz war noch nie das Thema der Ärztekammer. Auch die technische Ausstattung, vor allem der kleinen Wahlarztpraxen, war immer eine Hürde. Dass der Gesetzgeber jetzt endlich diese Hürde nimmt und die Codierung verpflichtend für alle niedergelassenen Ärzt:innen inklusive Wahlbereichs einführt, ist ein von uns lange erwarteter, spät erreichter Meilenstein. Ich denke, dass wir das über die ELGA GmbH gut abwickeln können. Hier sitzen Bund, Länder und SV in einer Gesellschaft mit einer europaweit anerkannten guten Governance. Wichtig ist mir aber, dass die Sozialversicherung diese Daten ebenfalls bekommt, denn andernfalls fehlen wesentliche Verknüpfungsmöglichkeiten etwa mit den Krankenstandsdaten.

 

Digital Doctor: Durch die verpflichtende Codierung wird den Ärzt:innen wohl auch bei optimaler digitaler Einbindung ein Mehraufwand erwachsen. Soll und wird es aus Ihrer Sicht dafür eine finanzielle Entschädigung geben? Oder sollten die nichtfinanziellen Anreize, wie optimale Patientenversorgung und Verknüpfung mit Decision-Support-Systemen, als Anreiz ausreichend sein?
Huss: Vorerst werden wir ein Pilotprojekt brauchen, das natürlich finanziert werden muss. Das Codierungstool muss dann kostenlos zur Verfügung stehen. Was die unterschiedlichen Softwareanbieter:innen den Ärzt:innen dann für die Implementierung in die Arztsoftware abverlangen, ist derzeit noch offen, bzw. könnten die Softwareanbieter:innen auch gesetzlich verpflichtet werden, eine Einbindung mit bestimmter Qualität vorzunehmen. Für unsere Vertragspartner:innen wird es da eine Lösung geben müssen.